Sophie Thun
EW (W, VS, AS, ST), Secession Vienna, 22.-23.06.2020 (from the series All Things in My Appartment Smaller Than 8 x 10’’)
Fotografische Genealogien
In Sophie Thuns Werk sind Interaktionen ein konstitutives Verfahren, das unter dem Paradigma der Fotografie oder besser dem des Fotografischen steht, mit dem Rosalind E. Krauss das starre Konzept der Kamerafotografie erweiterte. In EW (V, VS, AS, ST) sind es zwei sich fotografisch überlagernde Ebenen, die Facetten des Mediums in Zeiträumen spürbar machen, wovon die Hände einen ersten Eindruck erwecken: die hellen, nur partiell sichtbar werdenden von Sophie Thun und die kunstvoll ineinander verschränkten von Elisabeth Wild, die zur Zeit der Entstehung des Portraits vermutlich noch Pollak hieß.
Thun hat selbst den Zusammenhang zu den prähistorischen Handabdrücken hergestellt,(1) was uns generell zum Positiv-Negativverfahren und weiter zum Fotogramm führt, das William Henry Fox Talbot für seine Naturselbstdrucke als „impressed by the nature’s hand“ verstand. Die Trope der Hand war zu Talbots Zeit, wie Katharina Steidl ausführt, ein Kürzel für die menschliche Arbeitskraft, die zunehmend unsichtbar wurde.(2) Sie ist dies auch im autogenerativen Verfahren des Fotogramms, was Thun insofern konterkariert, als sie ihre Hände aktiv eingebringt und mit ihnen andere Bildelemente berührt, hält oder markiert. Sie verbleiben als leuchtend weiße Flächen im Gegensatz zu den belichteten dunklen Partien, rahmen nun das ältere Bild von Wild wörtlich, aber auch genealogisch, indem sie ein altes Verfahren neu interpretieren. In den Händen von Wild wiederum zeigt sich noch etwas vom Händekult der Zwischenkriegszeit, als sich die expressive und suggestive Kraft der Hände in Tanz, Werbung, Theater und Portrait eingeprägt hatte und die Hand als Spiegel der Seele verstanden wurde.(3) Diese Geste hat das Portrait von Wien nach Buenos Aires begleitet, auch wenn es vermutlich erst in den 1940er Jahren entstanden ist.
EW (V, VS, AS, ST) ist Teil der Serie All Things in My Apartment Smaller Than 8 x 10“ und 2020 in der Secession entstanden, als sich Thun im oberen Ausstellungsraum eine Dunkelkammer einrichtete und mehrere Dinge ihrer Wohnung aus der Stolberggasse, die das 8×10” messende Format des Großbildnegativs nicht sprengten, dorthin brachte. Diese Gegenstände oder Fotografien sind so belichtet, dass Thun sie mit beiden Händen auf die beschichtete Unterlage festdrückt, um auf diese Weise jeweils ähnlich strukturierte Fotogramme zu erhalten. In dieser Serie kommt neben Wild eine weitere Künstlerin, nämlich Sofonisba Anguissola vor, basierend auf einer Postkarte ihres Selbstportraits aus dem Kunsthistorischen Museum. Die Fotografie von Elisabeth Wild hatte Thun digital von Adam Szymczyk erhalten, der die Künstlerin wiederentdeckt und anlässlich der documenta 14 prominent gezeigt hatte.(4) Ihm selbst hatte wiederum Vivian Suter, die Tochter der Künstlerin und selbst Künstlerin, ein Handy-Foto aus dem Familienalbum per E-Mail aus Guatemala geschickt und erwähnt, dass der Fotograf des in Buenos Aires aufgenommenen Portraits mit Vornamen Walter hieß. Thun schließlich hat es am 22. Juni 2020 belichtet und fertigte am nächsten Tag einen Abzug auf Barytpapier an. Der Titel EW (W, VS, AS, ST) folgt der Personenkette, die wie eine Spur von Elisabeth Wild zu Walter, Vivian Suter, Adam Szymczyk und Sophie Thun angelegt ist und eine indexikalische Beziehung explizit macht.
Im Unterschied zur Fotografie von Wild sind die Hände von Thun ein Bild der Abwesenheit, wenn auch eines einer vorangegangenen Berührung, die eine negative Ansicht hinterlässt. Man könnte sie auch als „Emanation des Referenten“(5) sehen, der durch die mediale Übertragung im Unterschied zur Spur als dauerhafter Abdruck verbleibt. Sie sind „Nähe und Ferne, Präsenz und Repräsentation“, wie Georges Didi-Huberman die Hände der Höhle von Gargas beschrieben hat,(6) was auch für Thun stimmig ist. Thun nützt die Möglichkeiten des Fotografischen bis an dessen Grenzen aus, so dass die monochromen durch Linien begrenzten Handflächen eine ikonische, mit Repräsentation spielende Bildlichkeit erhalten. Indem es keine Details preisgibt, opponiert das Fotogramm quasi gegen die Präzision der Fotografie.(7) Dass zusätzlich die Dinge, die im Fotogramm immer in gleicher Größe erscheinen, hinter ihrer Wirkung zurücktreten, zeigen auch die Hände Thuns. Die Fotogramme der Moderne haben uns gelehrt, dass das Fotogramm schwerelos und immateriell und zusätzlich richtungslos ist, was Thun durch die Positionierung der Hände an zwei Seiten, die meistens oben und unten ist, quasi korrigiert. Die Hände legen eine Spur zum Körper, der vermutlich eine spezielle Pose einnehmen muss, um den Abdruck in der gewünschten Form zu gewährleisten.
Diese eine Pose allerdings ist unsichtbar, während generell die physische Präsenz ihres Körpers in Selbstdarstellungen ein wichtiges Dispositiv in Thuns Arbeit ist, das sich mit der Pose in Variationen, Vervielfältigungen, Überlagerungen und Montagen auseinandersetzt, wie etwa die einzelnen Bilder von Double Release oder L’escalier belegen. Oft wählt sie dazu große Formate. Ist die Pose eine „Schnittstelle zwischen der gesellschaftlichen und der psychischen Dimension von Repräsentation“ sowie eine zwischen Begehren und Repräsentation, wie es in Bezug auf Craig Owens Text „Posing“ heißt,(8) nimmt Thun den Schnitt wörtlich, wenn sie Selbstdarstellungen als Montagen neu ordnet. Owens definiert die Pose als prinzipiell fotografisch und auch Thun hält den Selbstauslöser sichtbar in der Hand, dabei aber stets den Blick fest auf die Betrachter:innen gerichtet hat. In L‘escalier von 2020 modifiziert sie die Referenz an Duchamps Nu descendant un escalier no. 2 dahingehend, dass sie die bei Duchamp angelegte Bewegung fotografisch dekonstruiert. Ort der Aufnahmen ist die Stiege zum oberen Geschoß der Secession, die eine ortsspezifische Dynamik einbringt. Mit dem Untertitel Threesome/Samotrzecia/Selbdritt sind es drei Selbstdarstellungen, die ausschnitthaft und neu montiert im Gegensatz zu Duchamp eine Aufwärtsbewegung anzeigen, die verheißungsvoll zum Ausstellungsraum führen würde, wäre dieser nicht Dunkelkammer und für das Publikum verschlossen.
Die Pose spricht von wiedergewonnener Subjektivität, die das als Objekt posierende Subjekt neu erlangt hat. Im Portrait von Elisabeth Wild ist sie sorgfältig und kunstvoll inszeniert. Es handelt sich offensichtlich um eine Studioaufnahme, die den ästhetischen Gesetzen der 1920er und 1930er Jahren folgt und alles aufleben lässt, was ein solches zumeist kommerziell erstelltes Portrait dieser Zeit verlangt hat. Stimmungsvoll und doch nachdenklich hat Walter sie in Szene gesetzt, wobei den Händen viel Dramatik zugestanden wird. Das Dunkel der Haare und der Bluse kontrastiert mit der helleren Säule im Hintergrund, dem Gesicht und den Händen, wobei manche Stellen wie Solarisation anmuten. Die Bluse wurde aus einem Pyjama von Wilds Mutter angefertigt, woran sich Vivian Suter erinnert.(9) Die Pose der Dargestellten, die schräg von rechts unten ins Bild gesetzt ist, verschafft in ihrer Kontrastierung zur Säule in einem auf Atmosphäre zielenden Gesamteindrucks mit unscharfen verschwommenen Stellen eine weitere Dynamik. War auch Walter ein Emigrant aus Europa, der einer Generation angehörte, die in den 1920er Jahren ihre Hochzeit hatte? Wild war 1938/39 mit ihren Eltern Franz und Stefanie Pollak von Wien nach Buenos Aires emigriert und hat dort den Círculo de Bellas Artes de Buenos Aires besucht. Wer war Walter, der mit Franz Pollak Schach spielte? Bestimmt gehörte er nicht der Generation Wilds (geb.1922), sondern der ihrer Eltern an. Vivian Suter erinnert sich, dass er deutsch gesprochen hat.(10) Wann könnte das Bild entstanden sein? Ein früheres Porträtfoto, auf dem Wild vielleicht 13/14/15 Jahre alt ist, findet sich in der Sammlung Kontakt der Erste Foundation, trägt die Signatur „JLKA Wien“ und ist vermutlich um 1935 entstanden. Zwischen beiden Bildern könnten etwa zehn Jahre liegen, was nahelegen würde, eine Datierung um 1945 anzunehmen. Das Portrait muss vor Wilds Heirat 1948 gemacht worden sein. War Walter in einem Fotostudio tätig, das aus Europa stammte und dort seine Blütezeit in den 1920er oder 1930er Jahren hatte? War er etwa wie die Pollaks aus Wien? Auch österreichische Ateliers sind nach Buenos Aires in die Emigration gegangen, wie etwa jenes von Abraham Myron Schein, der in Wien sehr erfolgreich war und bis 1950 in Buenos Aires ein Studio unterhielt.
In EW (W, VS, AS, ST) sind viele Spuren enthalten, die sich nicht aufschlüsseln lassen. Thun belässt sie im Fotografischen, überformt sie durch Berührung, durch direkten Kontakt mit dem Material und besiegelt sie mit der Signatur der Hände.
1. Vgl. Lisa Long, „Artist, Producer, Performer: Unsettling the Gendered Hierarchy of Labor and Representation in Art”, in: Sophie Thun. phileas First Monographs, Berlin 2022, S. 13. Aus diesem Katalogbuch sind auch alle Angaben zu Thuns Werk entnommen.
2. Katharina Steidl, Am Rande der Fotografie. Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin 2018, S. 15 ff. und 357.
3. Siehe etwa Monika Faber & Magdalena Vukovic (Hg.), Tanz der Hände. Tilly Losch und Hedy Pfundmayr in Fotografien 1920-1935, Wien 2014.
4. Siehe Adam Szymczyk, „Hands/Hände“: in Camera Austria 150/151, 2021, ohne Seiten, ein Beitrag zu EW (W, VS, AS, ST), wo sich neben Referenzen auf Literatur und Kunstgeschichte auch alle hier verwendeten Angaben zum Foto von Elisabeth Wild finden.
5. Zitat von Roland Barthes, vgl. Steidl S. 130.
6. Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 24f., siehe auch Steidl S. 130 und Long S. 13.
7. Ausführlich bei Timm Starl, Fotogramm, http://www.kritik-der-fotografie.at/15-Fotogramm.htm, Zugriff 30.1.2023.
8. Susanne Holschbach, „Einleitung“ in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003. S. 12. Der Beitrag von Craig Owens auf S. 92 ff.
9. E-Mail von Vivian Suter an Susanne Neuburger, 17.10.2022.
10. E-Mail von Vivian Suter an Susanne Neuburger, 9.02.2023.