Ulrike Grossarth

Anja Casser / Badischer Kunstverein (Hg.), Ulrike Grossarth. Die Schule von Lublin, München 2023, Cover

Schule von Lublin

In Zusammenhang mit der Retrospektive von Ulrike Grossarth, die 2022 unter dem Titel gibt es ein grau glühend?... im Badischen Kunstverein in Karlsruhe stattfand, hat Direktorin Anja Casser nun in der edition metzel das Katalogbuch Schule von Lublin herausgegeben, in dem Grossarth anhand von einzelnen Abschnitten, Werkgruppen oder Referenzen das Projekt in seiner Gesamtheit darstellt: Lublin war seit 2006 der zentrale Ort ihrer Arbeit geworden und hat bis 2018 auch ihre Lehrtätigkeit an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste bestimmt. 2014 gründete die Künstlerin die „Schule von Lublin“, die sie als Denkschule versteht, in der sie auf Quellen jüdischer Kultur und Lehre zurückgreift. Sie knüpft an Texte oder Ereignisse an, um sie als „Denkmöglichkeiten“ (Ulrike Grossarth) neu zu untersuchen und darzustellen. Ihr Geschichtsbegriff ist dabei ein offener, dezidiert will sie nicht poetisch vorgehen oder an Erinnerungskultur anschließen, sondern in die Abstraktion, ins Ungewisse vordringen. Im Sinne von Hannah Arendt ist ihre Methode eines des Handelns, in der Forschung und Lehre nicht primär werkorientiert ausgerichtet ist.

Ulrike Grossarth, gibt es ein grau glühend?…, Ausstellungsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe, 2022
Foto: Stephan Baumann, bild_raum

In der Ausstellung in Karlsruhe bildeten die Arbeiten aus dem Lubliner Projekt gemeinsam mit einem umfangreichen Rahmenprogramm den Schwerpunkt, obwohl ebenso Arbeiten aus den 1980er und 1990er Jahren sowie neue Werke gezeigt wurden, was wichtig war, um die Arbeiten, die in Zusammenhang mit Lublin entstanden sind, im Kontext ihres gesamten Werkes verstehen zu können. Neben einer kurzen Einführung von Anja Casser beschreibt Grossarth selbst das Projekt in vielen Details, gibt uns sowohl eine chronologische als auch topographische Vorstellung und lässt einzelne Entscheidungen und Entwicklungsschritte gut nachvollziehen. 2011 waren zum Projekt vom Kunsthaus Dresden/Städtische Galerie für Gegenwartskunst bereits zwei Publikationen bei Spector Books vorangegangen: Stoffe aus Lublin sowie Stefan Kiełsznia. Ulica Nowa 3. In Wien wurde Grossarth 2014 einem breiteren Publikum durch die Ausstellung der Generali Foundation Wäre ich von Stoff, ich würde mich färben, kuratiert von Sabine Folie und Ilsa Lafer, bekannt, wo auch Arbeiten aus Lublin gezeigt wurden.

Ulrike Grossarth, gibt es ein grau glühend?…, Ausstellungsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe, 2022
Foto: Stephan Baumann, bild_raum

Lublin ist eine Stadt im Südosten von Polen, die eine der wichtigsten Zentren des Chassidimus war und mit der größten Talmudschule Europas als Oxford des Ostens galt. Ebenso bekannt ist sie durch das KZ Majdanek. Lebten 1865 in der Stadt 60% Juden, waren es 1930 über 30%, die 1941 in ein Ghetto gesperrt und ermordet wurden. Einer der großen Gelehrten war Jaakow Jizchak Horowitz (1745–1815), der „Seher von Lublin“.

Ulrike Grossarth, Der Wald von Lublin, 2017, aus: Anja Casser / Badischer Kunstverein (Hg.), Ulrike Grossarth. Die Schule von Lublin, München 2023

Grossarth besuchte den Ort regelmäßig und stieß 2006 auf das Fotoarchiv des Stefan Kiełsznia, der im Auftrag der Wehrmacht 1938 das jüdische Viertel mit seinen Straßenzügen und Geschäften dokumentierte. Diese im Negativ erhaltenen Bilder sind ein einzigartiges Zeugnis und zeigen ein lebendiges Zentrum polnisch-jüdischer Kultur. Für Grossarth sind diese Fotografien wichtige Quellen, denen sie in ihrer Arbeit topographisch und interpretierend folgen wird. „In Resonanz“ (Ulrike Grossarth) zum Werk von Kiełsznia wird sie die Straßen abgehen und 2015 das ehemalige Schneideratelier von Adam Niesznaj in der Lubartowska als Raum für temporäre Interventionen und Veranstaltungen anmieten. Auf ihre Initiative wurden die Fotografien von Kiełsznia aufgearbeitet und publiziert. Die Ladenschilder mit ihren Zeichen und Bezeichnungen, die sich auf Kleidung, Kurzwaren und Haushaltsgeräte beziehen, waren auch Grundstock für jene Projekte, die sich mit Tausch und Handel auseinandersetzten. Grossarth entwickelte verschiedene „Figuren“, die sowohl Elemente aus den Fotografien Kiełsznias als auch solche der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert sowie der Iconologia von Cesare Ripa aufgriffen.

Ulrike Grossarth, gibt es ein grau glühend?…, Ausstellungsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe, 2022
Foto: Stephan Baumann, bild_raum

In der Einführung zum Buch beschreibt Grossarth den Beginn des Lubliner Projektes so: „Im Winter 2005 las ich mit Studierenden meiner Klasse an der Hochschule für Bildende Künste Dresden in den Erzählungen der Chassidim von Martin Buber ein Textfragment, das sich mit der Prophetie eines Zaddiks aus dem 18. Jahrhundert befasst.“ Gemeint war Jaakow Jizchak Horowitz, der, als er mit einem Pferdewagen durch den Wald von Lublin fuhr, eine Art Offenbarung hatte, die in der jüdischen Mystik mit dem Begriff Schechina bezeichnet wird. Die Verknüpfung eines metaphysischen Geschehens mit einem realen Ort, hatte die Klasse beschäftigt, die in der Folge auch eine Religionswissenschaftlerin und mehrere Rabbiner befragte. Es war dies die „Initiativ-Figur“ (Ulrike Grossarth), deren weiteres Geschehen damals noch im Ungewissen stand. Neben vielen anderen Aktionen mit Studierenden war 2017 Der Wald von Lublin eine, in der Grossarth mit den Stoffen von Lublin noch einmal an die Anfangszeit anknüpfte.

Die Stoffe von Lublin hat Grossarth rekonstruiert und etwa in Mänteln verarbeitet, deren Vorbilder aus der Encyclopédie stammen. Die Arbeit X Lubliners bestimmen zwei überkreuzte Stoffballen, wie sie auf Ladenschildern in den Fotografien von Kiełsznia in Schwarzweiß zu sehen sind. „Umgewandelt“ in Farbe bilden sie eine Werkgruppe, die auch performativ eingesetzt werden kann. Grossarth geht es nie um Dogmen oder um moralisierende Aspekte ebenso wenig wie Historisierung oder Erinnerung eine Rolle spielen. In Bezug auf die Stoffe spricht sie auch weniger von deren Stil oder Beschaffenheit, sondern erwähnt deren „Mentalitäten“ oder „Denkstile“ als „kulturelle Verfassungen von damals“.(1) Künstlerisch gesehen schätzt Grossarth die „freien“ 1960er und 1970erJahre wichtiger ein als die theoriebestimmten 1990er Jahre. Kritisch äußert sie sich in Bezug auf Kunstmarkt und seine Ausrichtung auf die Warenförmigkeit von Kunst, wenn sie sagt. „Die Herstellung von Kunstwerken ist für mich sekundär, was mich interessiert, ist, tatsächlich erfahrbare, verfügbare und radikale anschauliche Denkräume zu generieren.“(2)

 

Wenn nicht anders angegeben sind alle Zitate aus der besprochenen Publikation: Anja Casser / Badischer Kunstverein (Hg.), Ulrike Grossarth. Die Schule von Lublin, München 2023.

(1)   „Von den Resten zukünftiger Möglichkeiten oder Stoffe aus Lublin“. Ulrike Grossarth im Gespräch mit Kathrin Krahl, Christiane Mennicke-Schwarz, Silke Wagler, in: Kunsthaus Dresden/Städtische Galerie für Gegenwartskunst (Hg.), Stoffe aus Lublin, Leipzig 2011, S. 53.

(2)   Ebenda S. 58.

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