Was wir gemacht haben, empfinden wir als extrem luxuriös

Andreas Siekmann, Alice Creischer im MAK, Wien auf einem Sofa von Gelitin
Courtesy: Creischer/Siekmann

Alice Creischer und Andreas Siekmann im Gespräch mit Hildegund Amanshauser, Wien 02.10.2023

Dieses Gespräch lässt die Zeit seit den späten 1980er Jahren Revue passieren und fragt nach entscheidenden Weichenstellungen in den Karrieren der beiden Kunstschaffenden. Beide haben nicht nur individuelle Karrieren, sondern auch gemeinsam und in verschiedenen Gruppenkonstellationen an Ausstellungs- und künstlerischen Projekten gearbeitet. Immer haben sie ihre Arbeitsmethoden dabei als künstlerische verstanden.

Hildegund Amanshauser: Erinnern wir uns an die 1980er Jahre und den Beginn der 1990er Jahre, wie würdet ihr diese Zeit eures Studiums und des Beginns eurer künstlerischen Tätigkeit beschreiben. In welchem Umfeld befandet ihr euch?

Andreas Siekmann: Die späten 1980er Jahre an der Kunstakademie Düsseldorf waren repressiv. Es gab auf einmal viel Geld im Kunstbetrieb und am Kunstmarkt. Das sieht man an verschiedenen Phänomenen wie zum Beispiel am Corporate Collecting, also an Firmen, die Sammlungen anlegten, wie etwa die Deutsche Bank, an sogenannten Art Consultern, die als Vermittler fungierten – in Düsseldorf war Helge Achenbach ein bekannter Name mit guten Kontakten zum Boulevard – oder auch an neuen Magazinen wie Wolkenkratzer(1). Vielleicht war der „Hunger nach Bildern“, das Aufkommen deutscher Malerei zu Beginn der 80er ein wichtiger Referenzpunkt. Bis zum heutigen Tag hängen der Kunstmarkt und die Galerien an den 80er Jahren. Die Stimmung insgesamt empfanden wir als repressiv.

Alice Creischer: Alles, was in der Kunst in den 70er Jahren erweitert wurde, dass man etwa als Künstlerin in eine Wandmalgruppe gehen konnte oder zu einer Therapiegruppe, all diese Formen von alternativen Weisen Kunst zu praktizieren, wurden in den 80er Jahren enggeführt. Ich erinnere mich noch genau, wie gesagt wurde, wenn du nicht in einer Galerie ausstellst und verkaufst, bist du keine Künstlerin. Diese brutale Engführung von künstlerischer Arbeit als Markt war in Düsseldorf sehr ausgeprägt. Daraus sind wir ausgebrochen, und wir waren sehr froh, als wir zu Beginn der 90er Jahre wahrnehmen konnten, dass andere Leute aus anderen Akademien das auch so empfanden. Und das hing nicht nur mit dem Zusammenbruch des Kunstmarktes zusammen, der sich in den 80er Jahren zu sehr hochgeschraubt hatte.

Messe 2 ok

Messe 2 ok, Köln 2095
Courtesy: Creischer/Siekmann

AS: Messe 2 ok war eine Fortführung und eine Konsequenz aus der vorherigen alternativen Messe zur Art Cologne – Unfair, 1993 und 94. Unfair war eine Initiative junger Kölner Galerien, denen die Preise auf der Art Cologne zu teuer waren.

Zur Unfair haben die Galerien auch Künstlergruppen eingeladen, die damals als selbstorganisierte Praxis in vielen Städten entstanden sind. Wir haben in einigen auch mitgearbeitet. Das Copyright für das Wort „Unfair“ wurde dann für 20.000 DM von der Kölner Messe aufgekauft, damit es nicht mehr genutzt wurde. Danach konnten diese Galerien drei Jahre lang kostenlos auf der Art Cologne ausstellen, die Künstlergruppen wurden jedoch nicht mehr präsentiert. Als Antwort darauf ist die Messe 2 ok 1995 entstanden. Die Veranstaltung sollte zunächst vom Siemens Kulturprogramm finanziert werden. Nach langen Vertragsverhandlungen, bei denen wir herausfinden wollten, warum Siemens sich dafür überhaupt interessierte, haben wir verstanden, dass sie die politische Kritik am Siemens-Konzern vereinnahmen wollten. Letztendlich kam kein Vertrag zu Stande, weil wir eine Veranstaltungsautonomie nicht garantiert sahen. Messe 2 ok finanzierte sich dann durch Partys, Essen und Eintritt. Die Organisation und Vorbereitung dieser Veranstaltung war von intensiven Diskussionen, die etwa ein Jahr andauerten, geprägt. 1995 wurden solche hoch kommunikativen Prozesse noch analog, d.h. im Zeitalter von Fax organisiert; das Konzeptpapier umfasste schließlich elf Seiten, die versuchten, den Ansprüchen der Gruppen gerecht zu werden und keine falschen Versprechungen oder Ausschlüsse zu produzieren.

HA: Die Messe dauerte vier Tage, jeder Tag war einem eigenen Thema gewidmet: 1. Stadtentwicklung, 2. Ästhetik von links/Gruppenzusammenhänge, 3. Ökonomische Verhältnisse, 4. Geld/Netzwerke/Auszahlung. Unter dem Motto „ökonomiese machen“, setzten sich sämtliche Beiträge in Beziehung zum Rahmenthema Ökonomie.(2) Die Messe drehte sich um die Möglichkeit und die Bedingungen für eine Politisierung der künstlerischen Produktion. Die einzelnen Gruppen konnten ihre Präsentationsweise dem jeweiligen Tagesthema entsprechend selbst wählen, einen Stand machen, einen Vortrag organisieren, ein Panel, eine Arbeitsgruppe, Platten auflegen, Filme zeigen, in der Küche oder der Bar arbeiten. Außer euch beiden waren u.a. Birger Hübel, Stephan Dillemuth, Michaela Odinius, FrischmacherInnen, Dierk Schmidt, Niko Siepen und Klaus Weber an der Konzeption und Organisation beteiligt. Es entstand so – ich habe das einen Tag erlebt – ein ungeheuer dichtes und reichhaltiges Programm.

Damals habt ihr noch in Düsseldorf gelebt, wann seid ihr dann nach Berlin gegangen?

Berlin in der Nachwendezeit

AS: Wir sind 1995 direkt nach der Messe nach Berlin gegangen.

AC: Durch Messe 2 ok hatten wir in Berlin viele Künstler:innen kennengelernt und hatten dadurch ein sehr gutes Umfeld, um mit verschiedenen Künstler:innengruppen, die sich politisch in unterschiedlichen Feldern engagierten, weiterzuarbeiten.

HA: Der Verlag b_books, die Freie Klasse in Berlin, Büro Bert und in Hamburg Park Fiction, ein Kunst im öffentlichen Raum-Projekt? 

AS: Richtig, und Annette Wehrmann, eine Künstlerin, die auch in Hamburg lebte.

AC: In und mit diesem Zusammenhang konnten wir überhaupt eine Möglichkeit finden, unsere Empörung auszudrücken zu der nationalistischen und neoliberalen Wende, die die Wiedervereinigung für uns bedeutete. Wir hatten wirklich eine Form von Abscheu gegen die Wiedervereinigungs-Ideologie und diesen Revisionismus. Und wie dieser Revisionismus zusammen ging mit der Verschärfung der Migrationspolitik. Das war zeitgleich mit einer rigiden Stadtpolitik, Privatisierung des öffentlichen Raums, mit der Broken-Windows-Theorie,(3) mit Rudy Giuliani als Bürgermeister der Stadt New York, der mit drastischen Mitteln die Kriminalität zurück drängte und als Vorbild auch für europäische Städte galt, die seine Überwachungsmaßnahmen kopierten. All diese Angelegenheiten, die damals gerade erst entstanden und noch als Konzepte diskutiert wurden, bestimmen heute unsere Städte. Wir haben uns oft heimlich verdächtigt zu hysterisch zu sein, wenn wir Migrationspolitik, rassistische Polizeigewalt, Privatisierung und Gentrifizierung oder Gentechnologie diskutierten. Aber von heute aus betrachtet, war diese Hysterie wohl gerechtfertigt. Wir haben uns sehr stark auf Neoliberalismus und Globalisierungskritik konzentriert.

In der Zeit war es für uns wichtig, unsere individuelle Arbeit hintenanzustellen, weil die Themen so dringlich waren und es keine Form von Berichterstattung darüber gab, sodass wir selber anfangen mussten zu recherchieren.

AS: Kunst hatte eine Pilotfunktion in Berlin auch in der Immobilienentwicklung. Bei vielen Berlin Biennalen lief dieses Phönix-aus-der-Asche-Spiel: „Guck mal die kaputte Baustelle, wow, heute ist hier Kunst und übermorgen sind schon die Investoren da.“ Wir wollten als Künstler:innen einfach nicht mehr so naiv sein nach dem Motto „Ich habe eine gute Gelegenheit, und der Rest ist mir egal“.

AC: Es war nicht mehr möglich, Kunst zu machen in dieser Form von Vereinigungseuphorie.

Alice Creischer, Andreas Siekmann, Josef Strau, Amelie von Wulffen, Die krumme Pranke, 1997, Videostill
Courtesy: Creischer/Siekmann

HA: Habt ihr damals nicht die Knetgummifilme gemacht, die sich mit den Problemen der Stadtentwicklung beschäftigten, bei denen viele Künstler:innen mitgearbeitet haben, Amelie von Wulffen fällt mir da ein?(4) Anhand von Knetgummifiguren habt ihr eure Kritik an bestimmten Phänomenen wie in einem Spielfilm dargestellt.

AC: Ja, das war eine neue Form, die wir gefunden haben. Ich glaube, für einige von uns waren die Knetgummifilme eine Möglichkeit wieder einzusteigen in diese Form Bilder zu produzieren.

AC: Das geschah zur selben Zeit wie die Reclaim-the-Streets-Bewegung in London beispielsweise mit ihrer unglaublich imponierenden Kreativität, nur waren wir im Kunstbereich weit davon entfernt. Im Gegenteil, bei uns hat sich die Kritik oft sehr schnell akademisiert.

HA: Wovon habt ihr damals gelebt?

AC: Ich habe Arbeitslosengeld bekommen, weil ich vorher bei der Dresdener Bank gearbeitet habe, als Dateneingeberin. Damals wurde alles digitalisiert und ich war „EDV Spezialistin“, weil ich einen Commodore 64 hatte. Deshalb bekam ich den Job, und danach war ich arbeitslos, war aber als Künstlerin arbeitslos. Das war schön, man konnte mich nicht vermitteln. Damals in den 90er Jahren gab es ja noch kein Hartz 4, das heißt, ich war acht Jahre arbeitslos.

AS: Zusätzlich gab es etwas Geld durch Artikel in Zeitschriften schreiben und Einladungen.

AC: Wir haben natürlich sehr knapp gelebt.

AS: Ja, aber wir waren unabhängig, da fühlte man sich manchmal wie ein König.

Die Karrieren kommen langsam in Schwung

Andreas Siekman, Platz der permanenten Neugestaltung, Sonsbeek ’93, 1993
Courtesy: Andreas Siekmann

HA: Und wann ging bei dir dann die Karriere los, Andreas? Mit deiner Ausstellung im Portikus 1999?

AS: Ja, gewissermaßen, aber bei dieser Ausstellung habe ich noch kein Geld verdient.

Eigentlich war meine Teilnahme bei Sonsbeek ‘93 meine erste internationale Ausstellung.

HA: Das heißt 1998, als du bei Public Space/Öffentlicher Raum Salzburg Lehen teilnahmst, einem großen Kunst im öffentlichen Raum-Projekt,(5) wo wir erstmals zusammengearbeitet haben, warst du da fast noch am Beginn deiner Karriere?

AS: Ja, aber ich war damals schon vergleichsweise alt, wir waren bei der Messe 2 ok schon 35. Die Künstler:innen der Generation, mit denen wir studiert hatten, hatten entweder schon Professuren oder waren im Markt etabliert.

HA: Kasper König hat damals den Portikus geleitet, und du kanntest ihn aus dem Studium?

Andreas Siekmann, Public Space/Öffentlicher Raum Salzburg Lehen,1998
Courtesy: Salzburger Kunstverein

AS: Ja, er hatte in Düsseldorf eine Professur für „Kunst und Öffentlichkeit“ und in dessen Seminar waren viele Künstler eingeladen wie Keith Haring, Mario Merz, Jenny Holzer, Jeff Wall, alle möglichen Leute. König hat die Personen eingeladen, mit denen er in seinen Ausstellungen zusammen gearbeitet hat, zum Beispiel bei von hier aus(6) oder den Skulptur Projekten(7). Ich bin da oft hingegangen, weil es immer wieder eine neue Auseinandersetzung war. König hat unsere Kritik und die verschiedenen Konflikte mit dem Kunstbereich stets distanziert verfolgt. Ich habe im Portikus dann die Arbeit Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung ausgestellt,(8) die Zeichnungsserie von Jeanshosen.

Andreas Siekmann, Aus Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Ausstellungsansicht documenta 11, Kassel 2002
Courtesy: Andreas Siekmann

HA: Die waren dann später auf der documenta 11, 2002?

AS: Ja, die waren später auf der documenta. Begonnen habe ich mit dieser Serie schon direkt nach Messe 2 ok in Berlin als eine erste Möglichkeit, das, was ich sah und erlebte, festzuhalten. Sie waren eine Fortsetzung meiner Arbeit mit Zeichnungen. Es gab eine ähnliche Serie, die ich für die Ausstellung Sonsbeek ‘93 gemacht habe, einer Ausstellung im öffentlichen Raum von Arnheim, die unregelmäßig mit unterschiedlichen Kurator:innen seit 1955 stattfindet.

HA: Alice, wann begann bei dir die individuelle Karriere?

Alice Creischer, L'Atelier de la Peintrice, 2000
Courtesy: die Künstlerin und KOW, Berlin

AC: Meine erste Ausstellung war hier in Wien im Kunstbüro 1998,(9) das war eine Ausstellung über die Nazi-Kontinuität in der deutschen Wirtschaft und über die Wiedervereinigungseuphorie. Ich habe daran später für die documenta 2007 weitergearbeitet. Im Jahr 2000 war ich an der Ausstellung Dinge, die wir nicht verstehen(10) in der Generali Foundation beteiligt, wo ich unter dem Namen Alice Ohneland das Bild L’Atelier du Peintre von Gustave Courbet neu interpretiert habe. Es hieß L’Atelier de la Peintrice. In dem Bild von Courbet sieht man links die Wendehälse der französischen Revolution und rechts die anarchistischen Freunde. Das konnte ich ganz wunderbar übertragen, links die Wendehälse der deutschen Republik und rechts meine anarchistischen Freunde. Andreas war meine Muse und mein Modell.

Alice Creischer, The Greatest Happiness Principle Party, Detail: Countess of Glaxo Wellcome, 2001, Ausstellungsansicht, Secession, Wien 2001
Courtesy: die Künstlerin und KOW, Berlin

Das Bild ist durchzogen von Linien, wenn man Scheinwerfer draufhielt, hat sich hinten ein Comic abgebildet von Mister Invisible Hand. Es gab dann 2001 die Ausstellung The Greatest Happiness Principal Party in der Wiener Secession(11), angelehnt an die berühmten Feste der Secession in den 20er Jahren, die mir eine Erzählstruktur liehen für die Wirtschaftskrise und die darauffolgenden Konzepte kolonialer Wirtschaftsstrategien von Deutschland.

 AS: Nach der documenta 2002 sind wir nach Argentinien gegangen.

Alice Creischer Andreas Siekmann, Brukmann Anzüge, 2004 – 2006
Ausstellungsansicht, Gropius Bau, Berlin 2019, ursprünglich produziert für Ex Argentina 2004
Courtesy: Creischer/Siekmann

Ex Argentina

Ex Argentina war ein von Alice Creischer und Andreas Siekmann in Argentinien durchführtes Forschungsprojekt, das die These vertrat, dass die Krise der politischen Repräsentation einer Krise der künstlerischen Darstellungsformen entspricht. Das Projekt setzte sich mit den Aufgaben von Kunst und Politik im Rahmen der Globalisierung auseinander. Die von Creischer und Siekmann ausgewählten zwölf Künstler:innen und Gruppen aus Buenos Aires, Rosario Posadas und Bahia Blanca entwickelten künstlerische und theoretische Untersuchungsvorhaben. Die daraus entstandenen Positionen wurden in den Ausstellungen in Köln 2004 und Buenos Aires 2006 denjenigen europäischer Künstler:innen gegenüber gestellt.(12)

HA: Ihr hattet 2001 die Ausstellung Gewalt ist der Rand aller Dinge in der Generali Foundation kuratiert(13) und 2002 habt ihr mit Ex Argentina begonnen? War das eine bewusste Entscheidung, jetzt mehr Ausstellungen zu machen?

AC: Eigentlich nicht, es hat sich einfach so ergeben.

AS: Während der Vorbereitung der Generali-Ausstellung war ich in Argentinien zu einem Vortrag am Goethe-Institut über die Zeichnungsserie mit den Jeanshosen eingeladen. Da lernte ich viele Künstlergruppen kennen. 2001 gab es zahlreiche Aufstände in Argentinien. Mich hat interessiert, wie die Konfliktlinien, die wir von Berlin kannten, dort ausgeprägt sind und welche Folgen sie haben. Mich hat der Weltzusammenhang interessiert. Ich habe dann sehr kurzfristig Graphiken der Grupo de Arte Callejero zur Generali-Ausstellung mitgebracht. Danach gab es die Idee ein größeres Projekt zur Wirtschaftskrise in Argentinien zu machen, das von der neu entstandenen Kulturstiftung des Bundes finanziert wurde.

La Normalidad, Ausstellungsansicht, Palais de Glaces, Buenos Aires 2006
Courtesy: Creischer/Siekmann

AC: 2004 wurde Ex Argentina in Köln im Museum Ludwig gezeigt. 2005 konnte die Ausstellung auch in Buenos Aires gezeigt werden. Sie wurde von der Gruppe Etcetera, von Eduardo Molinari und Gabriela Massuh kuratiert und hatte den Titel La Normalidad.

HA: Wie lange wart ihr in Argentinien?

AS: Es waren etwa 13 Monate, wenn ich alles zusammenrechne.

HA: Und während dieser Zeit in Argentinien habt ihr kaum eure individuelle Arbeit gemacht?

AC: Wir haben durchaus schöne Dinge gemacht. Wir haben zum Beispiel immer Briefe geschrieben, die sehr intensiv waren. Wir haben Interviews und Korrespondenzen gemacht, Icons entwickelt. Wir haben sehr, sehr viel gelernt und sehr viel geschrieben in der Zeit.

AS: Gleichzeitig mit unseren Recherchen in Argentinien haben wir angefangen, auch Künstler:innen von hier einzuladen, damit es einen Zusammenhang gibt und es nicht ein exotisches Klischee von Lateinamerika wird.

HA: Habt ihr mit der Ausstellung an die Avantgarde der 60er Jahre aus Argentinien angeschlossen, die ja auch immer bekannter geworden ist?

AC: Nein, nicht wirklich, wir haben mit einer jüngeren Generation, die sich überwiegend in Gruppen organsierte, gearbeitet.

Von den Konzeptkünstlern der älteren Generation waren für uns zwei Bezugspunkte sehr wichtig. Auf der einen Seite Graciela Carnevale, über die wir das Projekt Tucumán Arde kennengelernt haben. Uns interessierte von Tucumán Arde der explizit politisierte Flügel. Auf der anderen Seite León Ferrari, er war der Bezugspunkt für alle jungen Künstler:innen aus Buenos Aires. Mit beiden Personen, Graciela wie Leon, haben wir lange und intensiv zusammengearbeitet.

HA: Es macht schon einen großen Unterschied, ob man an einem Projekt als Künstlerin oder Künstler arbeitet oder als Kuratorin/Kurator. Künstlerinnen und Künstlern haben ein viel ebenbürtiges Verhältnis zueinander. Du wirst als Kollege/Kollegin gesehen.

AC: Das ist absolut richtig. Es ist tatsächlich eine ganz andere Arbeitsweise, weil man intimer miteinander umgehen, sich auf einer gleichen Ebene kritisieren kann.

Wir waren in einer ganz besonderen historischen Situation in Argentinien, in der Situation der Aufstände und einer starken, globalisierungskritischen Bewegung, die gegen die Politik von IWF und Weltbank demonstrierten und zugleich eine gesamte Regierung vertreiben konnten. Ich glaube, in so einem Augenblick da zu sein, ist natürlich ein sehr großes Geschenk.

AS: Eine besonders wertvolle Zusammenarbeit war für uns die Arbeit mit der Anzugfabrik Brukman. Damals gab es in Argentinien viele besetzte und von den Arbeiter:innen selbst geführte Fabriken. Wir wurden zum Plenum der Arbeiter:innen eingeladen und konnten dort erklären, dass wir die Idee hatten, Anzüge mit ihnen zu produzieren. Auf der einen Hälfte sollte es die Geschichte ihrer Besetzung sein, auch wie es dazu kam, und auf der anderen Seite die Geschichte, wie es durch den G8-Gipfel in Köln und durch die Schuldenpolitik zur Krise in Argentinien kam. Die Arbeiter:innen haben das gut gefunden. Andreas hat die Zeichnung gemacht, die Ideen zusammengefasst, die haben wir dann dahin geschickt und so sind die Anzüge produziert worden.

HA: Und ihr habt diese dann im Gropius Bau 2019 ausgestellt?(14)

AS: Ja, richtig, 2019 wurden sie im Gropius Bau ausgestellt. Zuvor waren sie Teil der Ausstellung Ex Argentina und aus La Normalidad wurden sie schließlich 2008 vom Museum Reina Sofia gekauft. Wir fanden das natürlich großartig. Wir konnten unsere Galeristen überzeugen, dass der Galerieanteil zu den besetzten Fabriken ging. Die Arbeiter:innen hatten damals extreme Schwierigkeiten, weil die Polizei immer die Maschinen kaputt gemacht hat, und so konnten sie eine neue Knopfmaschine kaufen.

Eduardo Molinari, Los Hijos de soja, 2010, Ausstellungsansicht Principio Potosí, Reina Sofia, Madrid 2010
Courtesy: Creischer/Siekmann

Principio Potosí

Am Beispiel der berühmten Silberstadt Potosí setzte sich diese Ausstellung kritisch mit den Verhältnissen auseinander, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert die Minenindustrie in den Kolonien Lateinamerikas zu einem bedeutenden Faktor der europäischen Wirtschaft werden ließen.

Das Projekt unter Leitung von Andreas Siekmann, Alice Creischer und Max Jorge Hinderer ging wirtschaftlichen und bildpolitischen Zusammenhängen nach, die seit dem 16. Jahrhundert bis heute die Weltordnung und damit auch die Wahrnehmung der Welt prägten. Anhand der Geschichte der andinen Kolonialmalerei, aber auch zeitgenössischer Werke zum Thema verdeutlichte die Ausstellung die systematische Ausbeutung des Vizekönigreichs Peru, das einen Großteil des südamerikanischen Kontinents umfasste. Die Ausstellung, die sich mit der Überlagerung von Hegemonie und Bildproduktion zwischen Lateinamerika und Europa beschäftigte, wurde 2010/11 im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, Spanien, im Museo Nacional de Arte in La Paz; Bolivien und im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt.(15)

HA: Dann kam Principio Potosí, eure nächste Ausstellung, die noch viel komplexer und auch viel konfliktgeladener war. Aber davor habt ihr beide auf der documenta 12, 2007 ausgestellt und du Andreas auch noch zeitgleich bei den Skulptur Projekten in Münster, ihr hattet also als Künstler:in eine große internationale Sichtbarkeit.

AC: Klar, das war schön und wichtig, sich wieder der eigenen Arbeit widmen zu können und damit auch wahrgenommen zu werden.

Potosí hat sich trotzdem in gewisser Weise nahtlos an Ex Argentina angeschlossen. Als die Ausstellung 2006 in Buenos Aires war, sind wir nach Potosí gefahren, eine Stadt in Bolivien, die in kolonialer Zeit schon ab dem 16. Jahrhundert durch den Silberabbau maßgeblich zum Reichtum der Kolonisatoren beitrug. Wir waren sehr beeindruckt davon, und anlässlich meiner Ausstellung 2008 im MACBA in Barcelona(16) wurden wir eingeladen, uns etwas Ähnliches wie Ex Argentina für das Museum Reina Sofia in Madrid zu überlegen.

Principio Potosí, Ausstellungsansicht, Hau der Kulturen der Welt, Berlin 2010
Courtesy: Creischer/Siekmann

AS: Zunächst wollten wir nicht noch mal so ein großes Projekt machen. Aber wir hatten schon die Idee, barocke Gemälde aus Potosí auszuleihen und zeitgenössische Künstler:innen einzuladen, auf diese Gemälde zu antworten. Wir wussten nicht, wie schwer das sein würde.

AC: Wir konnten uns auch nicht vorstellen, dass die Leute in Bolivien überhaupt gar keinen Wert darauf legten, dass die Bilder in Europa ausgestellt wurden. Insgesamt kam es zu vielen Konflikten, weil uns dieser koloniale bzw. postkoloniale Zusammenhang in Spanien und in Bolivien zunächst sehr fremd war und wir erst langsam dazu gelernt haben.

Wir hatten auch in Bolivien das Glück, wieder an einem historischen Moment teilnehmen zu können, und zwar als Evo Morales Präsident wurde – als Teil einer dekolonialen indigenen Bewegung. Ein Teil von Principio Potosí besteht aus Interviews und Gesprächen über eine ganz konkrete dekoloniale Praxis in Bolivien ebenso wie über die Konstitution eines plurinationalen Staates.

AS: Es war also wieder extrem viel Arbeit, und wir konnten daneben nichts anders mehr machen. Aber wir wussten, das ist so ein historischer Moment, in dem wir so viel lernen konnten, eine großartige Gelegenheit, die wir nie wieder in unserem Leben haben würden.

HA: Wie viele Jahre hat es gedauert, bis die erste Ausstellung in Madrid fertig war?

AC: 2008 haben wir mit der Recherche begonnen, 2010 war die Ausstellung in Madrid, dann im Haus der Kulturen der Welt in Berlin und 2011 war sie in La Paz. Zehn Jahre später haben wir mit dem Archiv begonnen. Es wurde vorgestellt im HKW in Berlin 2021 und im Kunstraum Lüneburg, 2022 in der Akademie der Künste der Welt in Köln und im Kunstraum Schwaz. In Kürze wandert das Archiv zum ISLAA Institute nach New York. Aber das wichtigste für uns ist die Publikation des Archivs bei Walther König.(17)

AS: Principio Potosí war mit allen Konflikten sicherlich ein Pilotprojekt für die nachfolgenden Ausstellungen und Diskurse zu Dekolonisierung im Kunstbereich. Wir hatten damals den Eindruck, dass wir einen Raum betreten, dessen Tür wir nur einen kleinen Spalt öffnen.

HA: Und ihr habt eure Projekte in Südamerika ja doch als Europäer:in gemacht.

AC: Es war schwierig, weil auch Spanien selber in der kolonialen Geschichte eine Sonderrolle einnimmt. Portugal und Spanien standen damals noch in einem spätmittelalterlichen Feudal-Zusammenhang. Es war eine ganz andere Sache als später Frankreich oder England.

Wir hatten immer Schwierigkeiten, diese ganze Form von postkolonialem Diskurs so schnell zu adaptieren. Die beste Quelle für uns war Fernand Braudel(18) und ist es immer noch. Der Konflikt, den wir im Principio Potosí hatten, war ganz eindeutig der Konflikt von Ökonomiekritik gegen Identitätspolitik. Darum ist es bis jetzt auch häufig ein Fallbeispiel.

Lehre

HA: Ich würde jetzt gerne noch einen Sprung zu eurer Lehre machen. Ihr habt in Weissensee eine fünfjährige Professur gehabt. Ihr habt zweimal bei der Internationalen Sommerakademie in Salzburg unterrichtet und jetzt beginnt ihr gerade mit einer Professur in Wien, auch für fünf Jahre. Welche Rolle spielt die Lehre für euch?

AC: Wir empfinden es als ein großes Privileg in unserem Alter noch mal lehren zu dürfen. Wir sind jetzt viel gelassener und großzügiger als früher. Wenn man jünger ist, will man weiter seine eigene Arbeit machen, und man hat schnell den Eindruck, die Lehre nimmt einem Zeit weg, man ist da viel gespaltener und geiziger. Jetzt haben wir das Gefühl, dass sich die Studierenden mehr Erfahrungen von uns abholen können. Zuerst müssen wir zuhören und dann begreifen. Und so ist es auch, glaube ich, als Lehrende.

AS: Wir können Erfahrungen in völlig verschiedenen Ausprägungen wie aktivistischen, reflektorischen etc. weitergeben, dann gibt es natürlich auch Studierende, die wirklich was von uns über Kunst wissen wollen.

HA: Ihr habt ja eine sehr breite Streuung, ihr seid zu zweit und habt extrem viel gemacht.

Individuelle künstlerische Arbeit im Verhältnis zum Kuratieren, zur Lehre und zu allem anderen

HA: Jetzt noch eine letzte Frage. Eure individuelle künstlerische Karriere habt ihr manchmal, wenn ihr für Ex Argentina, Potosí oder aktivistisch für die Messe 2 ok gearbeitet habt, hintangestellt. Kann man sich das als etwas Organisches vorstellen?

Alice Creischer, Apparat zum osmotischen Druckausgleich von Reichtum bei der Betrachtung von Armut, 2005-2007
Courtesy: die Künstlerin und KOW, Berlin

AC: Ja, es ist extrem organisch. Nach Ex Argentina habe ich eine meiner längsten und größten Arbeiten gemacht, weil ich dann die Dinge, die ich erlebt und durchgelebt habe, auf einmal wieder in mir selber begriffen habe. Das war die Arbeit Apparat zum osmotischen Druckausgleich von Reichtum bei der Betrachtung von Armut. Ich finde, der Wechsel zwischen kollektiver und individueller Arbeit war immer ein organischer Prozess, wie eine Herzklappe, sie sich ja auch öffnen und schließen muss, so wie man eben aufnimmt und dann sich wieder zurückziehen muss, um das für sich zu reflektieren. Wir haben unsere kuratorischen Projekte sehr explizit künstlerisch begleitet, dadurch dass sich die Struktur der Projekte durch Ikonographien herstellen ließ und durch eine sehr intensive Schreibpraxis.

AS: Ikonographien sind graphische Figuren und Zeichen (Piktogramme), die historisch dem Bildstatistischen Institut von Gerd Arntz und Otto Neurath in Wien verpflichtet sind.

Ich hatte noch einen anderen Zweig, die Kunst im öffentlichen Raum, und bin zu einigen Projekten eingeladen worden. Ich habe immer Entwürfe gemacht ohne die Vorstellung, dass das unbedingt verwirklicht zu werden braucht. Für mich waren diese Projekte so eine Art von Realitätscheck, inwieweit ich die Realität begreifen kann und eine Antwort finde, unabhängig davon, ob ich baue oder nicht.

HA: Hattet ihr manchmal das Gefühl, ihr hättet auch Lust auf eine mehr glamouröse Karriere gehabt?

AC: Wir hatten immer das Gefühl, eher an der Peripherie des Kunstfeldes zu sein, um dann von dort aus manchmal ins Zentrum zu stoßen und dann wieder zur Peripherie zurück zu gehen. Wir wissen ja auch, wie schlimm es ist, wenn man sich professionalisiert, weil man dann wie ein Unternehmer fungieren muss, und das ist ja ganz genau das, was wir nie machen wollten.

AS: Wie geht es bei einer normalen Karriere? Du hast vielleicht fünf bis zehn Jahre Erfolg, dann ergatterst du eine Professur, und das war‘s. Was wir gemacht haben, empfinden wir als extrem luxuriös, weil wir extrem selbstbestimmt gearbeitet haben und disziplinübergreifend: Jetzt schreibe ich einen Artikel, jetzt mache ich ein kuratorisches Projekt und in all dem aber eine explizite Form von künstlerischer Praxis und Empfinden nicht aufzugeben, ob du den Artikel schreibst oder ein kuratorische Projekt machst oder deine eigenen Sachen oder in einer Gruppe zusammenarbeiten, das empfinden wir als absolutes Privileg.

HA: Und ihr wart immer zu zweit, das stellt man sich von außen auch manchmal schwierig vor.

AC: Ich kann mir nicht vorstellen, künstlerisch zu „heiraten“ und, ob du nun zu zweit oder zu dritt bist oder zu viert bist, einen individuellen Reflexionsraum aufzugeben. Da wir manchmal zu zweit gearbeitet haben, manchmal in größeren Kollektiven, dann wieder einzeln, haben wir uns immer eine Form von Distanz und Enge zur gleichen Zeit erlauben können. Ich glaube, es ist gut, wenn man so viele unterschiedliche Formen von Kooperationen ausprobiert hat.

AS: Manchmal finde ich es ein bisschen schade, dass wir nach Potosí, obwohl das ja nicht unerfolgreich war, nicht mehr zu einem neuen Projekt eingeladen wurden. Aber zum Beispiel bei der Kritik am Humboldt Forum spielte unsere Arbeit eine Bezugsrolle. Das war natürlich prima, so wie eine Art Ernte, die man einfährt, als wäre etwas, was man gesät hat, aufgegangen. Vielleicht bringt diese Lehre noch mal einen anderen Drive.

HA: Vielen Dank für das Gespräch.

(1)  Wolkenkratzer war eine Kunstzeitschrift, die von 1983 bis 1989 erschien.

(2)  Vgl. Texte zur Kunst, März 1996, S. 47ff.

(3)  Die Broken-Windows-Theorie besagt, dass, wenn irgendwo ein Fenster eingeschlagen ist, es ganz schnell zu einer Verwahrlosung und Kriminalisierung des Umfelds kommt.

(4)  Siehe etwa Alice Creischer, Andreas Siekmann, Josef Strau, Amelie von Wulffen, Die krumme Pranke, 1997 https://vimeo.com/133841301, letzter Zugriff 27.11.2023

(5)  Vgl. Jochen Becker, „Öffentlicher Raum/Public Space in: Kunstforum International, September 1998, https://www.kunstforum.de/artikel/offentlicher-raum-public-space/ und https://salzburger-kunstverein.at/oeffentlicher_raum_public_space, letzter Zugriff 27.11.2023

(6)  https://de.wikipedia.org/wiki/Von_hier_aus_%E2%80%93_Zwei_Monate_neue_deutsche_Kunst_in_D%C3%BCsseldorf, letzter Zugriff 27.11.2023

(7)  https://www.skulptur-projekte-archiv.de/, letzter Zugriff 27.11.2023

(8)  https://www.portikus.de/de/exhibitions/95_aus_gesellschaft_mit_beschraenkter_haftung, letzter Zugriff 27.11.2023

(9)  https://www.basis-wien.at/db/institution/10356;jsessionid=E6250EC4EB551F32F870310DBFEA1A42 (Kunstbüro war eine Galerie von Amer Abbas), letzter Zugriff 27.11.2023

(10)  https://foundation.generali.at/de/ausstellungen/dinge-die-wir-nicht-verstehen/#:~:text=Irritation%20geh%C3%B6rt%20zur%20Erfahrung%20zeitgen%C3%B6ssischer,nichts%20Anderem%20als%20Konventionen%20besteht., letzter Zugriff 27.11.2023

(11) https://secession.at/ausstellung_alice_creischer, letzter Zugriff 27.11.2023

(12) https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/bild_und_raum/detail/ex_argentina_genealogie_einer_krise.html, letzter Zugriff 27.11.2023

(13) https://foundation.generali.at/de/ausstellungen/die-gewalt-ist-der-rand-aller-dinge-subjektverhaeltnisse-politische-militanz-und-kuenstlerische-vorgehensweisen/, letzter Zugriff 27.11.2023

(14) https://www.berlin.de/ausstellungen/archiv/5563377-3238788-and-berlin-will-always-need-you.html, letzter Zugriff 27.11.2023

(15)  https://archiv.hkw.de/de/programm/projekte/2010/potosi/potosi_prinzip_start.php), letzter Zugriff 27.11.2023

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Anselm Kiefer in der Wiener Staatsoper

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Ulrike Grossarth