Zhanna Kadyrova und die Mission der Brote von Palianytsia
Das typisch ukrainische Palianytsia, ein Brotlaib aus Weißmehl, hat seit Ausbruch des Krieges eine fast ikonische Dimension erfahren, die Zhanna Kadyrova als Grundfigur ihres gleichnamigen Projektes aufnimmt, um diese bildlich-visuell und diskursiv vor dem Hintergrund des Krieges neu zu entwickeln. Wie andere Werkgruppen der Künstlerin wird Palianytsia eine weit verzweigte Ausstellungsaktivität erfahren, deren erste Präsentation in Berezovo, im ländlichen Umkreis von Ivano-Frankivsk in der Westukraine stattfand, wo die Künstlerin nach Ausbruch des Krieges Zuflucht gefunden und sich gemeinsam mit Denis Ruban Arbeitsräume eingerichtet hatte. Dort hat sich eine kleinere Community aus Kyiv zusammengefunden, darunter auch der Filmemacher Ivan Sautkin, der einen Film über das dortige Leben, die Umgebung, die Entstehung und die erste Präsentation von Palianytsia gemacht hat. Die aus Flusssteinen in täuschend echte Brote verwandelten Objekte weist Kadyrova anlässlich dieser ersten Ausstellung dezidiert als Kunstwerke aus, womit sie die Bruchstelle zwischen geschaffener Illusion und faktischer Herstellung, nach der im Publikum gefragt wird, schließt. Später war sie wohl im internationalen Kunstbetrieb solcher Erklärungen enthoben, wenn die Brote abseits ihrer ländlichen Ursprünglichkeit in Berlin, in Stavanger, in Tokio oder anlässlich der Biennale in Venedig gezeigt wurden. Sie waren jeweils in einem ähnlichen Setting ausgestellt, das die verschiedenen Brote auf einem Tisch mit weißem Tischtuch so präsentierte, als ob es sich in seiner Einfachheit, wenn nicht Kargheit und Leere um ein Stillleben der niederländischen oder spanischen Malerei des 17. Jahrhunderts handelte. Keine redundante Information lenkt von den Broten ab, die wie die halb geschälten Zitrusfrüchte und aufgeschnittenen Melonen in den Beispielen der Malerei teils in Scheiben geschnitten, teils jedoch ganz belassen sind und wie dort den Geboten eines drastischen Realismus folgen.
„It wasn’t a philosophical thing. I needed to produce”, sagt die Künstlerin über ihre damaligen Überlegungen, ihre künstlerische Arbeit in der Situation des Krieges neu zu positionieren, Kyiv zu verlassen und das Gefühl zu überwinden, „that art at all is powerless and ephemeral compared to the ruthless machinery of war that destroys civilian cities and human lives.“ (1) Mit Palianytsia hat Kadyrova schließlich ein Fundraisingprojekt auf den Weg gebracht, in dem das Brot aus Stein zu wirklichem Brot wird: Die Brote werden nach Gewicht verkauft, um den Erlös dem ukrainischen Militär zukommen zu lassen, wie es im Nachspann des Films von Sautkin (Babylon’13 in Kooperation mit UA-Culture: Ivan Sautkin, Olena Zashko, and Ganna Yeresko) heißt, aber wohl auch um Kolleg:innen und Freiwilligenorganisationen in der Ukraine zu unterstützen. In Venedig konnten die Künstlerin und die Galleria Continua denn auch einen beachtlichen Betrag erwirtschaften, der mittlerweile auf 200.000 Euro angewachsen ist. (2)
Ein solcher Tisch war kürzlich im Rahmen einer Gruppenausstellung von vier ukrainischen Künstlerinnen zu sehen, die Kuratorin Bettina M. Busse in Kooperation mit Lizaveta German und Maria Lanko unter dem Titel Der Tod und das Mädchen. Junge ukrainische Kunst im Tresor des Bank Austria Kunstforum Wien ausgerichtet hat. Werke von Lucy Ivanova, Elena Subach und Anna Zvyagintseva waren neben Kadyrovas Palianytsia ausgestellt. Gezeigt wurde auch der schon erwähnte Film von Sautkin, der uns in die Entstehungsgeschichte einführt und vom Alltag der Künstlerin in der Westukraine erzählt. Die Steine, die aus einem Flussbett der Gegend stammen, sind schwer und werden in großen Mengen geborgen, um in der Folge von Denis Ruban in Brote verwandelt zu werden. Im Film verfolgen wir das Auffinden und Sammeln der Steine inmitten der unberührten Landschaft des westukrainischen Karpatenvorlandes sowie deren Schleifen und Formen. Der Krieg ist immer präsent, wenn Kadyrova organisatorische Telefonate führt und man dabei Sirenen hört oder wenn sie die Bewohner:innen nach traumatischen Erfahrungen durch den Ausbruch des Krieges befragt. Sie antwortet mit eigenen Erlebnissen und fertigt dabei Porträtskizzen an, die dann auch in der ersten Präsentation an den Wänden zu sehen waren. Der Entstehungsort ist essentieller Teil des Projektes, und auch den verwandelten Broten bleibt die Site specificity erhalten. Dies wird durch den Projekttitel bekräftigt, handelt es sich doch bei „Palianytsia“ um ein nationales Lebensmittel, das hier in einem Transfer von Natur in Kultur entstanden ist, um später im Ausstellungswesen die ökonomischen Bedingungen von Brot UND Kunstwerk aufzunehmen.
Mit traditionellen Stickereien aus der Serie Anxiety waren im Tresor zusätzlich zum Film weitere Werke zu sehen, die die scheinbar „friedlichen“ Brote mit dem Kriegsgeschehen umfangen. Es geht dabei um Warnungen vor Luftangriffen, mit denen die Stickereien textuell überlagert sind. Der Umschlag von Bild in die Schrift steht in Kontrast zu den Brotobjekten, die nicht-narrativ sind, wie dies generell dem Stillleben eigen ist, auch wenn Symbol und Allegorie eine Rolle spielen können. Dass Letztere kaum auf Kadyrova zutreffen, machen nicht nur Palianytsia, sondern auch ihre Serie Second hand deutlich, denkt man etwa an die Kleidungsstücke und Handtücher in Zusammenhang mit der Ausstellung im Grössling-Bad in Bratislava 2020 (Kuratorin: Elena Sorokina). Vielmehr ist für Kadyrova eine Materialwahl typisch, die Ortsgebundenheit wörtlich nimmt, indem sie neue, meist gegenständliche Objekte aus vorgefundenen Materialien erzeugt und so ähnlichen Zeichen andere Bedeutungen verleiht.
Auch das Stillleben operiert mit einer Differenz von Zeichen und Bedeutung. Forscher:innen sprechen ihm generell Bedeutung und letztgültige Interpretation ab und eröffnen ihm wie Hanneke Grootenboer „a realm beyond interpretation that may be called thinking“. (3) Die Präsentation ist stärker als das Argument. Dies gilt auch für Palianytsia, dessen Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit Gewinn (die Brote) gegen Verlust (der Ursprünglichkeit des Steins), Aneignung gegen Entfremdung abgewogen hat. Was Zeichen und Bedeutung angeht, enthält Palianytsia diesbezüglich eine linguistische Spitzfindigkeit in der Aussprache des Wortes. „Palianytsia“, im Ukrainischen паляниця, im Deutschen besser transkribiert mit „Paljanizja“, sprechen Russen und Ukrainer verschieden aus bzw. ist es für Russen schwer auszusprechen, wodurch es zu einem Kennwort zur Unterscheidung von Freund und Feind geworden ist. Insofern ist Palianytsia ein Code, ein Passwort und erinnert, dass im Stillleben Illusion auch trügerisch ist und Camouflage irritiert.
1. Für die Zitate siehe:
https://www.theartnewspaper.com/2022/06/10/the-venice-biennale-has-long-been-known-as-the-worlds-most-discreet-art-fairwhere-does-ukraine-fit-into-that
https://ocula.com/art-galleries/konig-gallery/exhibitions/palianytsia/ (Zugriff: 10.1.2023)
2. E-Mail von Zhanna Kadyrova an Susanne Neuburger, 18.1.2023.
3. Zitiert nach Hanneke Grooteboer, Projektbeschreibung ihres späteren Buches The Rhetoric of Perspective: Realism and Illusionism in Dutch Seventeenth-Century Still Life and Trompe l'Oeil Painting, Chicago 2005. https://philpapers.org/rec/GROTRO-20 (Zugriff: 10.1.2023)