Poetische Operationen
Die feministische Avantgarde im Italien der 1970er Jahre
Drei Ausstellungen in Bozen, Karlsruhe und Wien widmeten sich in diesem Frühjahr jenen Künstlerinnen, die in den 1970er Jahren im Umkreis von konkreter oder visueller Poesie, Lyrik, konzeptueller Musik oder Lautpoesie neue, interdisziplinäre Formate erprobten. Abseits der patriarchalen Autorität der Sprache waren ihre Arbeiten semiotisch, strukturalistisch und vor allem feministisch ausgerichtet. Vielfach standen sie unter dem Motto der „autocoscienza“ (Selbsterfahrung im Sinne von Selbstbewusstseinswerdung), einem Begriff, den Carla Lonzi in Zusammenhang mit der Gruppe Rivolta Femminile geprägt hat. Mit Taci, anzi parla. Diario di una femminista (Schweig, oder besser: Sprich. Tagebuch einer Feministin) veröffentlichte sie 1978 ein weiteres wichtiges Buch für den italienischen Feminismus, das ein Sprechen aus weiblicher Sicht neu bewertete.(1) Im selben Jahr fand die legendäre Ausstellung Materializzazione del Linguaggio in den Magazzini del Sale anlässlich der Biennale von Venedig statt, die die Künstlerin, Dichterin und Kuratorin Mirella Bentivoglio konzipiert hatte. Übergreifendes Thema war „il rapporto tra le donne e il linguaggio“ (die Beziehung zwischen Frau und Sprache), eingeladen waren über 80 internationale, in der Mehrzahl aber italienische Künstlerinnen. Die Fondazione Antonio Dalle Nogare hat sich nun die „Re-Materialisierung“ dieser Ausstellung vorgenommen, jedoch ist sie auch für die beiden erwähnten anderen wichtiger Referenzpunkt.
Auch Ilse Garnier war in dieser Ausstellung von 1978 vertreten. Kuratiert von Alex Balgiu und Anja Casser (initiiert von Andrew Hunt) hatte der Badische Kunstverein in Karlsruhe der Künstlerin eine große Personale unter dem TItel a e i o u ausgerichtet, die ihr gesamtes Schaffen umfasste. Die in Deutschland geborene Künstlerin hatte, zuerst gemeinsam mit ihrem Partner Pierre Garnier, später allein, die Poésie spatiale entwickelt. Gaby Gappmayr, die eine umfangreiche Monographie über Ilse und Pierre Garnier vorgelegt hat, erklärt diese als Durchdringung von Sprache und Raum: „Das Wort als autonomes Gebilde, als stoffliche Realität, wird in Beziehung zum Raum gesetzt.“(2) Dem Badischen Kunstverein unter Leitung von Anja Casser ist das zumeist vergessene bzw. wenig bekannte Themengebiet ein Anliegen, bereits 2016 war eine erste Ausstellung mit dem Titel Concerning Concrete Poetry (kuratiert von Andrew Hunt) zu sehen. Mehrere Präsentationen folgten, nun, parallel zur Ausstellung von Ilse Garnier, Concrete Experience, wo mit Annalisa Alloatti, Mirella Bentivoglio, Irma Blank, Betty Danon, Wanda Gołkowska, Lily Greenham, Ana Hatherly, Liliane Lijn, Mira Schendel und Chima Sunada Künstlerinnen vorgestellt werden, die neue Sprach- und Bildformen erkundeten. Gleich am Eingang begegnete man Lily Greenham mit dem 1970 entstandenen Musikstück Experience. Die in Wien geborene Sängerin und Komponistin, die durch Op Art oder Sound Poetry bekannt wurde und in den 1950er Jahren Kontakt zur Wiener Gruppe hatte, musste 1938 nach Kopenhagen flüchten und lebte später in London. 2024 wird ihr vom Kunstverein eine Personale gewidmet.
Einige der Frauen aus Concrete Experience waren in der Ausstellung von Mirella Bentivoglio 1978 in Venedig beteiligt, die nun anlässlich des 100. Geburtstages der Kuratorin in Bozen unter dem Titel „Ri-Materializzazione del Linguaggio. 1978-2022“ eine Art Reenactment kuratiert von Christiana Perrella und Andrea Viliani mit Vittoria Pavesi erfuhr. Ergänzt durch Arbeiten von Monica Bonvicini, Bracha und Nora Turato sind viele der Künstlerinnen von 1978 in einer einzelnen, an den Wänden angebrachten Raumvitrine versammelt. Ergänzt durch Wandarbeiten und Videos ermöglicht diese von Matilde Cassani entworfene Präsentation eine optimale Erfassung des Materials. In alphabetischer Reihenfolge werden die Künstlerinnen präsentiert, wobei der Alfabetiere murale (Wand-Alphabetisierer) von Tomaso Binga, der auch in der Vitrine gezeigt wird, als Gliederung dient. In dieser Arbeit stellt Tomaso Binga alias Bianca Menna mit ihrem Körper das Alphabet nach. Beginnend mit Annalisa Alloatti, Irma Blank, Maria Lai, Ketty La Rocca oder Giulia Marcucci zu Berty Skuber, Simona Weller und Francine Widmer macht sich ein weites Spektrum an „operazioni poetiche“ (Mirella Bentivoglio) bestehend aus Typographie, nichttextuellen Schriftformen, Fotografien, Performances usw. auf. Sieben Jahre Recherche gingen der Ausstellung voran. Die Ausstellung von 1978 ist insofern ein Phänomen, als Bentivoglio hier eine quasi vorarchivarische Sicht auf Zusammenhänge geleistet hat, auf denen spätere Projekte aufbauen konnten. Wie sie im Katalog der Ausstellung, der 2022 von der Venedig-Biennale als Reprint neu aufgelegt wurde, schreibt, sind Werke „tra linguaggio e immagine“ (zwischen Sprache und Bild), „tra linguaggio e oggetto“ (zwischen Sprache und Objekt) versammelt, „messaggi di natura ambigua che si muovono nell‘ambito della trasgressione e ovviamente a un livello di ricerca disciplinata e autocosciente“ (Botschaften zweideutiger Natur, die sich im Bereich von normativen Verstößen bewegen, offensichtlich aber das Niveau einer geordneten und selbstbewussten Recherche einhalten).(3) Eine Entdeckung ist die in Hollabrunn in Niederösterreich geborene Greta Schödl, die an der Akademie in Wien studierte und 1959 nach Bologna übersiedelte. In Bozen ist sie mit dem Codice femminile vertreten, an dem sie von 1966 bis 2007 arbeitete.
Ist die Ausstellung gelungen, sind es die begleitenden Texte, die die „Dreisprachigkeit der lokalen Gemeinschaft“ (Pressetext) in deutsch, italienisch und ladinisch berücksichtigen, weit weniger. Der holprig zu lesende deutsche Pressetext ist eine unzureichende Übersetzung aus dem Italienischen. Theoretisch überfrachtet, als wäre die Fondazione die erste Institution, die eine Rekonstruktion einer vergangenen Ausstellung vornimmt bzw. sich einem hohen Anteil an Dokumentationsmaterial gegenübersieht, ist viel vom „Papiermuseum“, von „philologischer Rekonstruktion“ oder „Reaktivierung“ die Rede.
In einer Einzelausstellung von Mirella Bentivoglio zeigte die Wiener Galerie Winter eine prominente Auswahl ihrer Arbeiten aus mehreren Jahrzehnten. 1922 in Klagenfurt geboren und 2017 in Rom verstorben, wollte Bentivoglio allen gängigen Kategorien entkommen und sich in vielen Formen ausdrücken, die sie jedoch nie auf Gegensätzlichkeit beruht sah. In einem Interview hat sie einmal gesagt, dass sie als übergreifende Bezeichnung ihrer Arbeiten das Wort „poesia“ wählen würde. In der Galerie ist mit der von 1969 stammenden Arbeit Società di massa ein sehr frühes und vielleicht eines ihrer bekanntesten Werke zu sehen. Neben dem dominanten „NO“ erscheint ein kleines „i“, sodass es auch als „noi“ (wir) gelesen werden kann. Es ist also einerseits das Recht, „Nein“ zu sagen angesprochen, andererseits das große Projekt des „Wir“, wie auch der Titel (und die politische Situation jener Jahre) nahelegt. Semiotik und Semantik überkreuzen sich auf eine komplexe und doch poetische Art und Weise, wenn es, wie Victor Cos Ortega, immer um das Interesse am Grundsätzlichen geht.(4)
1. Vgl. Barbara Casavecchia, Taci, anzi parla, in: https://www.documenta14.de/de/south/463_schweig_oder_sag_s_besser
2. Gaby Gappmayr, Sprache und Raum. Die Poésie spatiale von Pierre und Ilse Garnier, Bielefeld 2004, S. 358 und 106.
3. Materializzazione del linguaggio. La Biennale di Venezia. 59ª Esposizione internazionale d'arte. Reprint der Ausstellung von 1978, Vorwort.
4. Victor Cos Ortega, Mirella Bentivoglio: Produktive Archäologie, in: https://www.artmagazine.cc/content123567.html