Avant-Garde and Liberation

Omar Ba, Clin d’oeil à Cheikh Anta Diop – Un continent à la recherche de son histoire, 2017, Ausstellungsansicht Avant-Garde and Liberation. Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne, mumok, Wien 2024
Courtesy Galerie Templon, New York / Paris / Brussels © Adagp, Paris, 2024, Foto: Georg Petermichl / mumok

Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne

mumok, Wien 07.06. bis 22.09.2024

Betritt man die Ausstellung Avant-Garde and Liberation auf Ebene 0 des mumok wird man überwältigt von dem über sieben Meter langen Gemälde auf Wellpappe von Omar Ba. Den drei überlebensgroßen Figuren eines Mannes, einer Frau und eines Jugendlichen in westafrikanischen Gewändern war man schon mehrmals in der Stadt auf Plakaten begegnet, hier spannt sich hinter ihnen eine Weltkarte mit Artefakten aus der Architektur- und Kunstgeschichte auf: Clin d’oeil à Cheikh Anta Diop – Un continent à la recherche de son histoire, 2017 (Cheikh Anta Diop zuzwinkernd – Ein Kontinent auf der Suche nach der eigenen Geschichte), 2017. Mit den ägyptischen Skulpturen direkt hinter den Gestalten verweist Omar Ba auf den senegalesischen Historiker Cheikh Anta Diop, der als Begründer einer als afrozentrisch bezeichneten Ägyptologie gilt. Ab den 1950er Jahren vertritt er die These, dass die altägyptische Kultur eine schwarzafrikanische Hochkultur war, die die griechische und damit die europäische Kultur maßgeblich geprägt hat. Diop hatte damit wesentlichen Einfluss auf Befreiungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent.(1) Das eindrückliche Bild dient nicht nur als visuelles Markenzeichen der Ausstellung, es reißt auch gleich zu Beginn ihre Thematik auf, nämlich die Präsentation von künstlerischen Arbeiten, die von alten und neuen Befreiungsbewegungen handeln. 24 Kunstschaffende aus Südasien, Afrika, Europa und den Amerikas spiegeln die jahrzehntelange Forschung von Christian Kravagna, Professor für Postcolonial Studies an der Akademie der Bildenden Künste Wien, wider, der gemeinsam mit Matthias Michalka die Ausstellung kuratiert hat. Christian Kravagna erstellte bereits vor zwanzig Jahren ein Ankaufskonzept für das mumok unter dem Titel Beyond Nato Art und kuratierte unter anderem 2014 eine Filmreihe unter dem Titel liberation unfinished. Er ist also seit langer Zeit wesentlicher Impulsgeber dafür, dass das mumok über die Grenzen der westlichen Kunstwelt hinausschaut.

Die überwiegende Anzahl der Arbeiten in der Ausstellung ist in den letzten fünf bis zehn Jahren entstanden. Die Ausstellungsarchitektur von Wilfried Kühn und Wassily Walter von Kuehn Malvezzi formt eine Präsentation von Videos, Skulpturen, Fotografien, Gemälden und Collagen zu einer gut zu rezipierenden Schau, wo die Arbeiten aufeinander Bezug nehmen, der unterschiedliche Sound aber so gut wie nicht interagiert und man sich die zum Teil sehr langen Videos in Ruhe anschauen kann.

patricia kaersenhout, Le retour des femmes colibris, 2022
© Courtesy patricia kaersenhout und Bonnefanten, Maastricht

Gleich hinter Omar Ba findet sich eine Blackbox mit patricia kaesenhouts Schwarzweißfilm Le retour des femmes colibris (Die Wiederkehr der Kolibri-Frauen), 2022. kaesenhout erzählt vom Ersten Internationalen Kongress schwarzer Schriftsteller und Künstler 1956 in Paris, bei dem laut kaesenhout Josephine Baker, die Schwestern Paulette und Jeanne Nardal sowie Suzanne Césaire (Ehefrau von Aimé Césaire) die Organisation des Kongresses übernommen hatten. Sie blieben jedoch für das Publikum des Kongresses unsichtbar, weil sie nicht öffentlich auftraten, auch die Geschichtsschreibung hat ihren Beitrag dazu vergessen. Alle vier waren als Tänzerin, Literatinnen, Herausgeberinnen und Aktivistinnen wesentliche Figuren der Négritude-Bewegung. Zu diesen vier Frauen (dargestellt von Schauspielerinnen), die alle zeitweise in Paris lebten, gesellt sich noch Frida Kahlo(2), die eine lateinamerikanische Perspektive einbringt. Der Kolibri im Titel bezieht sich auf ein Gedicht von Aimé Cesaire, das, an ein Volksmärchen angelehnt, vom Opfer und der Wiedergeburt eines Kolibris berichtet, der hier wohl metaphorisch für die Rolle der Frauen in der Négritude-Bewegung steht.

Zentral auf Ebene 0 ist ein großer runder Raum, in dem das fast zweistündige Video Juste un mouvement (Nur eine Bewegung), 2021, des belgische Künstlers Vincent Meessen gespielt wird. Der vielschichtige dokumentarische Film zeichnet anhand von Gesprächen mit Angehörigen und Wegbegleiter:innen den Lebensweg von Omar Blondin Diop, einer faszinierenden Figur, der in Jean-Luc Godards Spielfilm La Chinoise (Die Chinesin),1967, als einziger schwarzer Darsteller sich selbst als maoistischen Studenten spielt. Omar Blondin Diop, Wissenschaftler und Aktivist, verstarb unter ungeklärten Umständen 1973 mit 26 Jahren im Gefängnis von Gorée in der Nähe von Dakar, in das er wegen seines Widerstands gegen die Politik des Präsidenten des Senegal Léopold Sédar Senghor(3) gesperrt wurde. Der Film spannt auch den Bogen zum heutigen Senegal, in dem das neokoloniale Engagement Chinas allgegenwärtig ist, Senegales:innen chinesisch lernen und über Godard auf chinesisch referieren. Am Ende des Films spricht Felwine Sarr(4) im fahrenden Zug unter anderem über Restitution afrikanischer Kunst, den Sinn des Museums und die Re-Appropriation der eigenen Geschichte. Meessen greift filmische Mittel von Godards Film auf, lässt seinen Assistenten (Mamadou Khouma Gueye) einen Film im Film drehen, arbeitet mit vielen filmhistorischen und aktuellen Verweisen und zitiert mit Laien das von den Situationisten inspirierte afrikanische Theater Diops.

Serge Attukwei Clottey, James Baldwin, 2020 – 2021
Courtesy der Künstler und Simchowitz Gallery Los Angeles, © Bildrecht, Wien 2024

Im Ausstellungsraum anschließend findet man Mohamed Bourrouissas The whispering of ghosts (Das Flüstern der Geister), 2018, in dem Bourlem Mohamed, ein Patient der psychiatrischen Klinik in Bilda, Algerien, der Protagonist ist. In diesem Spital hatte Frantz Fanon als Arzt die Traumata der kolonialen Herrschaft Frankreichs erforscht und hatte den im Spital getrennten algerischen und französischen Patienten eine gemeinsame Gartenarbeit ermöglicht. Über diesen Garten der psychiatrischen Anstalt spricht auch Bourlem Mohamed. Anhand seiner Erzählung stellt Bourouissa eine Beziehung zu Frantz Fanon und seinen einflussreichen Forschungen her.

Serge Attukwei Clottey arbeitet mit ausdrucksstarken Porträts (Ölmalerei und Collagen), in denen er auf den Studiofotografen Seydou Keïta in Mali der 1950er Jahre zurückgreift. Er nimmt allerdings nach einer Residency in Wien vor zehn Jahren auch Bezug auf den Mord an Marcus Omofuma, der bei seiner Abschiebung aus Wien durch Zukleben des Mundes erstickt wurde.(5)

Iman Issa, Self-Portrait (Self as Doria Shafik), 2020
Courtesy die Künstlerin und Rodeo, London / Piraeus, Foto: Trevor Good

„Self as Doria Shafik(6) who repeatedly asserted, in her texts, speeches, lectures, and interviews, that being a woman was absolutely (no) different from being a man.“ (Selbst als Doria Shafik, die in ihren Texten, Reden, Vorträgen und Interviews immer wieder behauptete, dass das Frausein sich absolut (nicht) vom Mannsein unterscheidet.) Dieser Text, gestaltet wie ein Werktitel, ist integraler Teil der Arbeit Self-Portrait von Iman Issa, 2020-2022, eine mehrteilige Arbeit, die sich an verschiedenen Stellen in der Ausstellung findet. Sie berichtet über die komplexe Identifikation der Künstlerin mit herausragenden Figuren der dekolonialen Moderne, in dem sie die Porträts dieser Menschen extrem auf abstrahierte Kopfformen reduziert.

Ausstellungsansicht Avant-Garde and Liberation. Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne, mit Arbeiten von Atul Dodiya, Vivan Sundaram, Fahamu Pecou, Zoe Leonard, mumok, Wien 2024
Foto: Georg Petermichl / mumok

Auf Ebene 2 findet man einen Schwerpunkt mit US-amerikanischen Positionen, die sich afroamerikanischen Befreiungsbewegungen, Kämpfen, Theorien und der aktuellen Gewalt gegen Afroamerikaner:innen widmen. Man begegnet dem einzigen lateinamerikanischen Künstler der Ausstellung, William Cordova, mit einer großen Installation, die sich auf das lateinamerikanische Third Cinema, das sich von Hollywood abheben wollte, beruft, und einigen in Wien lebenden Kunstschaffenden, die sich mit unterschiedlichen Rassismen und der Geschichte schwarzer Kultur beschäftigen. Gegen Ende der Ausstellung findet man einen Indienschwerpunkt, wo unter anderem der bereits in früheren Ausstellungen Kravagnas gezeigte indische Künstler Vivan Sunderam präsentiert wird. Darunter ein faszinierendes Fahrgestell mit zwei Figurinen mit langen leuchtenden Antennen, Mill Re-Call, 2015. Es ist eine Neuinterpretation der zugrunde liegenden Arbeit Mill Call von Raminkar Baj, 1956. Er thematisierte in dieser und anderen Skulpturen anhand der Volksgruppe der Santhal den Wandel der Bauern zu Arbeitern in der Fabrik und deren Schwierigkeiten nach einer neuen Zeitvorstellung zu leben, die von der Logik der Fabriksarbeit vorgegeben wurde. In Mill Re-Call aktualisiert Sunderam diese Thematik, indem er auf die Transformation Indiens zu einem Hightech-Land und die damit einher gehenden Konflikte verweist.

Macht es einem die Ausstellung auf Ebene 0 relativ leicht, sich einen Überblick über die Arbeiten und deren unterschiedliche Themenstellungen zu verschaffen, unter anderen weil hier im Wesentlichen Arbeiten, die sich um Afrika drehen, versammelt sind, so wird es auf Ebene 2 mit den Schwerpunkten USA und Indien vielschichtiger und komplexer. Hier finden sich viele unterschiedliche Arbeiten, die zu verstehen und miteinander in Beziehung zu setzen einem als Besucherin durchaus herausfordert.

Eines ist jedoch klar, es war höchste Zeit, dass das mumok endlich einer größeren Ausstellung Raum gibt, die einer eingehenden Auseinandersetzung mit globalen/nachkolonialen Positionen gewidmet ist, wo doch zum Beispiel die Kunsthalle nebenan unter der Leitung von WHW eine klare Haltung zu diesen Fragen zeigte, die eine globale Sicht auf das Kunstgeschehen ganz selbstverständlich integrierte. Miguel A. Lopez‘ Ausstellung And if I devoted my life to one of its feathers?, 2022, ist ein gutes Beispiel dafür. Auch Institutionen im Westen Österreichs, wie das Kunsthaus Bregenz oder die Kunsthalle Tirol im Taxispalais haben schon längst ihr Ausstellungsprogramm der Globalisierung adäquat ausgerichtet.

Die Ausstellung legt mit ihrem zugrundeliegenden wissenschaftlichen Apparat die Latte hoch, doch zeigt sie auch, welche Entwicklungspotentiale für hoffentlich zahlreiche weitere Ausstellungen zum globalen Kunstgeschehen in nächster Zeit noch drinnen sind. Ausstellungen, die dann vielleicht eine stärkere thematische Fokussierung aufweisen und von einem diverseren Team kuratiert werden.

(1)  Vgl. Christian Kravagna und mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien: Avant-Garde and Liberation. Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne, Köln 2024, S. 61.

(2)  Frida Kahlo war nur 1939 ein paar Monate auf Einladung von André Breton in Paris, 1954, zwei Jahre vor dem Kongress, starb sie. https://artsandculture.google.com/story/frida-kahlo-in-paris/LgUh85WrSrdVLw?hl=en

(3)  Léopold Sédar Senghor war selbst Mitglied der „Négritude“, trat aber in den Augen Diops der neokolonialen Politik Frankreichs nicht ausreichend kritisch gegenüber.

(4)  Felwine Sarr wurde gemeinsam mit Bénédicte Savoy vom französischen Präsidenten Macron beauftragt, ein Gutachten über Möglichkeiten und Kriterien einer Restitution afrikanischer Kulturgüter aus französischen Museen zu erstellen, das 2018 veröffentlicht wurde.

(5)  Das im Bild verwendete Klebeband verweist darauf, vgl. Anm. 1, S. 72.

(6)  Doria Ragai Shafik (1908 – 1975) war eine ägyptische Journalistin und Feministin, die für das Frauenwahlrecht kämpfte.

 

 

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