Con i miei occhi – Mit meinen Augen

Maurizio Cattelan, Father, 2024, Ausstellungsansicht Con i miei occhi, Pavillon des Heiligen Stuhls, 60. Biennale von Venedig
Foto: Marco Cremascoli

Der Pavillon des Vatikans auf der Biennale von Venedig 2024

Es gibt kaum einen größeren Gegensatz zum Massentourismus in Venedig als das Frauengefängnis auf der Giudecca in einem alten Kloster. Hier die Millionen Tourist:innen, die die Lagunenstadt in Besitz nehmen, dort ein geschlossenes Haus, wo verurteilte Frauen von der Öffentlichkeit weggesperrt, eine bestimmte Zeit ihres Lebens in diesem engen Rahmen verbringen müssen. Als Strafe und, wie Papst Franziskus es bei seinem Besuch am 28. April 2024 im Gefängnis formulierte, in der Hoffnung auf seelische und körperliche Erneuerung.(1)

In diesem Frauengefängnis, ursprünglich ein Kloster, das auf das 16. Jahrhundert zurückgeht, ist 2024 der Pavillon des Heiligen Stuhls der 60. Biennale von Venedig untergebracht, kuratiert von Bruno Racine und Chiara Parisi. Einige Kunstwerke der acht in der Ausstellung präsentierten Künstler:innen sind in Zusammenarbeit mit den strafgefangenen Frauen entstanden. Man kann die Ausstellung nur nach Voranmeldung und Sicherheitskontrolle besuchen, muss alle Taschen und Mobiltelefone abgeben und wird ca. eine Stunde von zwei strafgefangenen Frauen geführt, bekleidet mit wunderschönen Mänteln, die in der Nähwerkstatt der Haftanstalt designt und gefertigt wurden. So begibt man sich auf eine gemeinsame Reise durch die Strafanstalt, immer begleitet von weiblichem Justizwachepersonal.

Corita Kent, Arbeiten aus den 1960er Jahren, Ausstellungsansicht Con i miei occhi, Pavillon des Heiligen Stuhls, 60. Biennale von Venedig
Foto: Marco Cremascoli

Wenn man sich dem Ort, der an einem kleinen Kanal situiert ist, nähert, sieht man ein großes in Schwarzweiß gehaltenes Bild, das auf die Fassade der Kapelle des Gebäudes gemalt ist. Darauf zu sehen sind zwei riesige Füße in Untersicht, die Arbeit Father von Maurizio Cattelan (geboren 1970 in Padua, Italien, lebt in New York), der einst mit seiner Skulptur von Papst Johannes Paul II, der von einem Meteoriten erschlagen wird, für Furore und Verärgerung des Vatikans gesorgt hat. Father ist das Gegenstück zu Mother, einer Arbeit aus 1999, die auch im Rahmen der Biennale in Venedig entstanden ist, wo sich ein Fakir mehrmals in der Erde vergraben ließ, bis nur noch seine beiden Hände aus der Erde schauten.(2) Cattelan selbst sagt über seine Arbeit Father: “I piedi, insieme al cuore, portano la stanchezza e il peso della vita.” (Die Füße, gemeinsam mit dem Herzen, tragen die Müdigkeit und das Gewicht des Lebens.)(3). Cattelans Arbeit bleibt für die Frauen im Gefängnis unsichtbar, er hat jedoch angekündigt, dass er im Laufe der Biennale noch ein Heft des L’Osservatore di Strada, der Straßenzeitung des Vatikans, gemeinsam mit den einsitzenden Frauen gestalten wird.

Ausstellungsansicht Con i miei occhi, mit Arbeiten von Simone Fattal, 2024 und Claire Fontaine, White Sight, 2024, Pavillon des Heiligen Stuhls, 60. Biennale von Venedig
Foto: Marco Cremascoli

Hat man die Sicherheitskontrolle hinter sich, sammelt sich die Gruppe im Aufenthaltsraum für das Wachpersonal mit kleinem Buffet. An den Wänden Schriftarbeiten in knalligen Farben von Corita Kent (1918 – 1986), einer Künstlerin, Aktivistin und Klosterschwester. Die Drucke im Stil der Pop Art tragen Schriftzüge: „Hope“ in gespiegelter Schrift, „Yes, people like us”, „No one walks on Waters” oder „Be a little more careful”. Hier begegnet man den beiden Führerinnen und wird von ihnen in einen langen Gang begleitet, an dessen Ende ein Wachturm zu sehen ist, mit dem Symbol eines durchgestrichenen Auges, ein gebräuchliches Zeichen im Internet, dass die Nutzer:innen nicht getrackt, also nachverfolgt werden. Es handelt sich dabei um eine Arbeit von Claire Fontaine (ein Künstler:innen- und Autor:innenkollektiv, das 2004 in Paris gegründet wurde, sich den Namen von französischen Schreibheften und Künstlerbedarf angeeignet hat und heute in Palermo stationiert ist), ein absurd kritischer Kommentar zum Wachturm. Im Gang finden sich emaillierte Lavaplatten, auf denen Simone Fattal (geboren 1942 in Damaskus, lebt in Kalifornien, Künstlerin, Philosophin und Verlegerin der Post-Apollo Press) unter anderem Texte von gefangenen Frauen geschrieben hat. „Family is like roses … stuck in this terrible place has made me realize so many things …” Vorbei an dem Garten, in dem biologisches Gemüse angebaut wird, geht es weiter in den Hof, in dem sich an diesem Vormittag einige Frauen aufhalten. Die Führerinnen zeigen uns den am Boden markierten Platz, an dem der Papst zu den Insassinnen gesprochen hat. An einer langen Wand eine weitere Neoninschrift des Kollektivs Claire Fontaine „Siamo con voi nella notte“ (Wir sind bei euch in der Nacht), in den Nächten, die in den Schlafsälen mit vielen Frauen für diese oft sehr einsam und quälend sind. Von Claire Fontaine stammen auch die Neoninschriften im Arsenale mit dem Motto der diesjährigen Biennale „Stranieri ovunque“ (Fremde überall) in vielen verschiedene Sprachen zwischen dem italienischen und dem chinesischen Pavillon über dem Wasser schwebend.

Claire Fontaine, Siamo con voi nella notte, 2024, Ausstellungsansicht Con i miei occhi, Pavillon des Heiligen Stuhls, 60. Biennale von Venedig
Foto: Marco Cremascoli

Im Begegnungsraum eine ältere Wandarbeit von Pauline Curnier Jardin, die im Zuge des Lofoten International Art Festival 2022 gemeinsam mit strafgefangenen Frauen realisiert wurde. Durch einen weiteren Hof, in dem die Führerin erzählt, dass seit einigen Jahren die kleinen Kinder nicht mehr bei den gefangene Müttern bleiben dürfen, sehen wir in einem kleinen Raum den Film von Marco Perego, einem 1979 in Italien geborenen Filmregisseur, der gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin Zoe Saldana, und mit strafgefangenen Frauen, einen Schwarzweißfilm im Gefängnis gedreht hat, in dem die Frauen sich quasi selbst spielen. Die Geschichte erzählt von einer Frau (Zoe Saldana), die entlassen, während eine andere ins Gefängnis eingeliefert wird, dem ewigen Kreislauf im Gefängnis. In der Bildsprache und der Filmmusik stark an Hollywood orientiert, sieht man die Laiendarstellerinnen am Klo sitzen, nackt unter der Dusche, während die Schauspielerin immer bekleidet, sich für die Entlassung vorbereitet. Man bekommt einen Einblick in die Schlafsäle und die Sanitäranlagen. Alles wirkt ziemlich heruntergekommen, im Stil von Hollywood aber erinnert es an eine unwirkliche Kulisse in einem Filmstudio und wird so der grausamen Wirklichkeit beraubt. Man kann sich vorstellen, dass die Frauen im Gefängnis über jede Aktivität froh sind, die sie aus ihrem quälenden Alltag herausreißt, ob ihre Würde in diesem Film tatsächlich bewahrt wurde, darf bezweifelt werden.

Ausstellungsansicht Con i miei occhi, mit Arbeiten von Claire Tabouret, 2024, Pavillon des Heiligen Stuhls, 60. Biennale von Venedig
Foto: Marco Cremascoli

Weiter geht es in einen Raum, in dem Claire Tabouret (1981 in Frankreich geboren, lebt in Los Angeles) Gemälde von Kindern der Frauen präsentiert, nachgemalt den Fotos, die die Insassinnen ihr gegeben haben. Abschließend in der ehemaligen Kapelle die Rauminstallation Sinfonia von Sonia Gomes (1948 in Brasilien geboren, lebt in Sao Paulo) mit hängenden Objekten aus Textilien und einer Soundinstallation. Verpackt in den kleinen Päckchen, die von der Decke baumeln, sind zum Teil gefundene Gegenstände und solche, die die strafgefangenen Frauen der Künstlerin gegeben haben. Dieser Raum, als ehemalige Klosterkirche ursprünglich der Maria Magdalena gewidmet, vermittelt tatsächlich auf merkwürdige Weise das Gefühl von Hoffnung. „Dimissa sunt peccata multa“ steht über der Orgel, „Vergeben sind viele Sünden“.

Elke Buhr von monopol findet den Pavillon „ergreifend“(4), wohingegen Sabine B Vogel sich beim Besuch „schrecklich voyeuristisch“ fühlt(5). Ich war beeindruckt von der Ernsthaftigkeit und Kompetenz, mit der sich vor allem eine der Führerinnen mit der Ausstellung beschäftigte und dies auch an die Besucher:innen vermitteln konnte. Aus Gründen des Respekts und des Datenschutzes wissen die Besucher:innen nichts von den Delikten der Frauen, die dort eine Haftstrafe verbüßen. Es ist aber nicht schwer herauszufinden, warum Frauen in italienischen Gefängnissen sitzen, es sind dies zu 30 % Eigentumsdelikte, 20 % Gewalt gegen Personen, 20 % Drogendelikte und 20 % Mafia. Insgesamt sind nur 4 % der gefangenen Personen in italienischen Gefängnissen Frauen.(6) Wegen der jahrzehntelangen grauenhaften Zustände in italienischen Gefängnissen (heillose Überfüllung, Gewalt, hohe Selbstmordrate, hohe Drogenquote etc.) wurde Italien auch bereits zweimal vom Europarat verurteilt.(7) Trotzdem scheint die Politik nicht willens oder in der Lage zu sein, nachhaltige Besserungen herbeizuführen. Bemerkenswert ist jedoch das umfangreiche zivilgesellschaftliche Engagement, wie zum Beispiel in Venedig die Kooperative Rio Terà dei Pensieri(8), die langfristig mit den strafgefangenen Frauen arbeitet. Mit ihnen hat auch der US-amerikanische Künstler Mark Bradford, der 2017 den amerikanischen Pavillon bespielte, kooperiert und so ermöglicht, dass ein Laden in Venedig eröffnet werden konnte, in dem die Produkte, die von den gefangenen Frauen erzeugt, verkauft werden können.(9)

Sonia Gomes, Sinfonia, 2024, Pavillon des Heiligen Stuhls, 60. Biennale von Venedig, Con i miei occhi, Ausstellungsansicht
Foto: Marco Cremascoli

Zurück zum Pavillon des Heiligen Stuhls: Hauptdarstellerin des Pavillons sind zweifelsohne das Gefängnis und die Frauen, die an den Kunstwerken beteiligt waren und die nun als Guides den Besuch des Gefängnisses und damit der Ausstellung erst ermöglichen. Der sensible Umgang der Künstler:innen mit den strafgefangenen Frauen ist unter anderem darin zu sehen, dass die Kunstschaffenden immer wieder zum Sprachrohr der Frauen werden, wenn sie zum Beispiel deren Texte und Fotos verwenden. Warum findet man in der Ausstellung jedoch so gut wie keine Kritik an den gegebenen Umständen, wo sie doch in den Medien seit Jahrzehnten allgegenwärtig ist? Ist die Ausstellung nur ein kurzes Feuer in der alltäglichen Langeweile der Frauen im Gefängnis? Eine nachhaltige Verbesserung der Haftbedingungen anzustoßen, scheint nicht im Interesse des Vatikans und der Kurator:innen zu sein, sonst hätte man ja zum Beispiel mit Rio Terà dei Pensieri zusammen arbeiten können. Ist es übertrieben zu behaupten, dass der Vatikan das Gefängnis vor allem für seine PR benutzt, indem er an den Voyeurismus der Besucher:innen appelliert, von denen wahrscheinlich nur wenige bisher ein Gefängnis von innen gesehen haben? Erscheint die Strafanstalt gefiltert durch den Ausstellungsbesuch und die Kunstwerke weniger brutal, als man annehmen muss, dass sie tatsächlich ist? Alle diese Fragen tauchen beim Nachdenken über den Pavillon auf und hinterlassen einen fahlen Nachgeschmack.

P.S. Will man sich nach dem Besuch auf der Giudecca noch mit dem Thema Gefangenschaft befassen, dann wird ein Besuch des Bulgarischen Pavillons empfohlen. Unmittelbar bei der Anlegestelle Zattere beschäftigen sich unter dem Titel The Neighbours Krasimira Butseva, Julian Chehirian und Lilia Topouzova mit den verschwiegenen Erinnerungen von politischer Gewalt im Bulgarien der Zeit von 1945 bis 1989. Die Rauminstallation zeigt eine Dreizimmerwohnung mit Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche mit gefundenen Objekten aus der betroffenen Zeit, die überlagert werden von Videoprojektionen und Audios. Im Wohnzimmer sprechen diejenigen, die offen über ihre Erfahrungen reden, im Schlafzimmer geht es um überlebende Personen, die über ihre Erfahrungen schweigen und die Küche ist denjenigen gewidmet, die sich nicht erinnern können oder nie die Möglichkeit bekommen haben zu sprechen. Der Pavillon zeigt eindrucksvoll die künstlerische Aufarbeitung von Unrecht und die verschiedenen Formen, sich daran zu erinnern.

 

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Angelika Loderer