Georg Baselitz und Marcel Duchamp
Das KHM und seine nackten Meister
Das Kunsthistorische Museum (KHM) brüstet sich, Georg Baselitz eine Ausstellung zum 85. Geburtstag auszurichten. Offensichtlich aber schaltet und waltet Baselitz mit Freibrief und ohne kuratorische Eingriffe seitens des Hauses, wie man stolz ist mitzuteilen. In fünf Sälen stellt er 40 Gemälde der Sammlung 73 eigenen unter dem Titel „Baselitz. Nackte Meister“ gegenüber, wobei die Nacktheit das Auswahlkriterium ist. Indem Baselitz seine Motive auf den Kopf stellt und die Wände flächendeckend bespielt, spiegelt sich alt in neu besonders dort, wo die Bilder übereinander hängen und sich wie ein aufgefalteter Rorschach-Test darbieten. Kein Versprechen auf Bedeutung, sondern visuelle Konfrontation verspricht diese Schau ohne Tiefsinn, in der sich die Menge der nackten menschlichen Körper quasi zur Einheit eines „Corpus Unum“ fügt. Baselitz hat vorwiegend Werke aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit katholischem Hintergrund ausgesucht. Damals wurde auf der Höhe gegenreformatorischer Propaganda mit dem Bild des „Corpus Unum“ die Einheit der Kirche als ein Leib propagiert, der aus vielen Gliedern besteht. In diesem „Ut unum sint“ ist es nun allerdings nicht der Katholizismus, sondern die Nacktheit, die das Gemeinsame ausmacht.
Auch der Status des Meisterwerks vereint die Auswahl. Baselitz hat die ursprüngliche Idee, nur die Hofmaler von Rudolf II. als Referenz zu seinen eigenen Werken zu zeigen, um Altdorfer, Cranach, Tizian oder Rubens erweitert. Es ist eine erlesene Riege, der er sich offensichtlich gewachsen fühlt. Selbstredend sind keine Malerinnen dabei, die er ja wiederholt als schlechte Künstlerinnen bezeichnet hat.(1) Innerhalb der „Alten Meister“ bevorzugte er vermutlich jene, die die Horizontale und Vertikale betonen, wie es für ihn selbst eine große Rolle spielt. In den drei Bildern freilich, die er Marcel Duchamp widmet, scheinen die Figuren durch die Luft zu wirbeln und keine orthogonale Stützung zu erfahren. Was macht Duchamp hier? Spürt Baselitz ebenso wie die Kunstwelt Duchamps stete Anwesenheit und Abwesenheit, wie Jasper Johns es ausdrückte?(2)
Die drei Bilder sind Variationen ein und desselben Motivs, von denen eines auf dem Kopf steht. Duchamp wird unter den Bildtiteln Melodie, Frisch verliebt – M.D., Im Walde von Blainville als Erotomane, als kleines, von einer fast nackten Frau überwältigtes bekleidetes Männchen gezeigt. Man erkennt ihn allenfalls an Frisur oder Kopfform. Die weibliche Figur in lasziver Pose ist offensichtlich ein Zitat aus „Étant donnés“, Duchamps letztem Werk, für das ihm bekanntlich seine damalige Gefährtin Maria Martins Modell stand. Baselitz gibt an, „ganz blöde erotische Lithografien“(Werktext) dafür verwendet zu haben, dennoch ist der Verweis auf Duchamps Spätwerk nicht zu übersehen. Auf dieses deutet auch das markant und voyeuristisch eingesetzte Loch im Schambereich, das aus dem Abdruck einer Maldose entstanden ist. Baselitz spricht im Falle von „Melodie“ von einem „Loch im Bild“ (Werktext), das die Phantasie anregt wie das Loch in der Schallplatte die Musik, jedoch deutet es auch auf die Gucklöcher von „Étant donnés“, durch die man schauen muss, um die gesamte Szenerie mit dem fragmentierten Frauenkörper zu sehen. Dem KHM hat er diese Verbindung wohl nicht verraten, denn in den Werktexten ist lediglich vom „phasenweise ausuferndem Liebesleben Duchamps“ die Rede. Obwohl es in diesem Zusammenhang keinerlei Relevanz hat, erfahren wir dort auch, dass er mit seinen Readymades zu den Begründern der Minimal Art zählt, was so nicht stimmt. Auch dass Duchamp die Malerei als „für tot“ erklärt hat, ist nicht richtig, da es ihm um „eine höher definierte Malerei ging, eine solche, die den unsichtbaren vierdimensionalen Hyperraum sichtbar mache, von dem die neuen nichteuklidischen Geometrien sprachen.“(3) Dem Wesen der Malerei, einer „malerischen“ Malerei, setzte er bekanntlich deren historische Konstruktion entgegen und sprach sich gegen das Retinale, gegen Netzhautsensationen aus. Den Werktexten sind diese Zusammenhänge allerdings kein Anliegen. Sie leben aus einem jugendbeschwingten Augenzwinkern und reden Baselitz, der sich über Duchamp lustig macht, nach dem Mund.
Mit dem 20. und 21. Jahrhundert hat sich das KHM immer schon schwergetan und abseits von kanonischen Parametern eine eigene Sicht auf diesen Zeitraum entwickelt. Zentrale Kriterien der Moderne und Nachmoderne wie Autorschaft, Werkstatus, Repräsentation und Materialität sowie Institutionskritik oder neue Medien kommen nicht vor. Das KHM setzt auf Tradition, auf Kontinuität einer malerischen Figuration großer Namen, in der Männer mit Alterswerken dominieren. Zweifelsohne waren unter der Kuratorenschaft von Jasper Sharp schöne Ausstellungen zu sehen wie etwa Joseph Cornell, wo sogar Carolee Schneemann zu einem Abend eingeladen war. Neben Baselitz hätte man auf Anselm Kiefer tippen können, dessen Ästhetisierung des Schreckens das bürgerliche Wiener Publikum in Venedig anlässlich der Biennale 2022 so nachdrücklich beeindruckt hatte. Schließlich hätte Österreichs Geschichte dystopischere Ereignisse zu bieten als einen Brand im Dogenpalast im Venedig des 16. Jahrhunderts, der dort als Thema diente. In Venedig war allerdings auch Baselitz im Palazzo Grimani prominent zu sehen, der die Männerriege im KHM nun fortsetzt, und sich allen oben gestellten Fragen verweigert, für die auch Duchamp steht.
Duchamp und Baselitz trennen 50 Jahre. Man kann sich kaum erklären, warum Baselitz Duchamp als „Gegner“ (Werktext) ansieht. Als Baselitz 1957 in den Westen kam, hielt Duchamp, der damals nur einem kleineren Insiderkreis bekannt war, in Houston den Vortrag „The Creative Act“, der, noch im selben Jahr publiziert, sehr einflussreich werden sollte. Als Duchamp 1968 starb, war er berühmt, und von den Neoavantgarden als Vorbild vereinnahmt. Pierre Cabanne sprach Duchamp darauf an und bezeichnete eine Gruppe von jüngeren Künstlern als Duchamps Kinder, wovon Duchamp wenig überzeugt war und sich dazu ausweichend äußerte. Ben Vautier, der damals als Duchamp Nr. 2 galt, kannte Duchamp nicht. Alle bei Cabanne genannten Künstler, wie Arman, Vautier, Martial Raysse oder Jean Tinguely sind zwischen 1925 und 1936 geboren.(4) Im Gegensatz zu Cabanne hat Daniel Spoerri Duchamp die Großvaterrolle zugewiesen, als dieser ihm gegenüber auf der Vaterrolle beharrte.(5) Baselitz ist acht Jahre jünger als Spoerri und gehört gewiss der Enkelgeneration an. Spiegelt er sich nun aus dieser Position im Liebesleben eines Großvaters, der die Malerei aufgegeben hatte?
Wie hat sich Baselitz mit Duchamp auseinandergesetzt? Hätte er ihm mit Werken wie „Die große Nacht im Eimer“ (1962/63) auch auf Augenhöhe begegnen können? 1959 erschien die erste Biographie von Robert Lebel, die erste Einzelausstellung Marcel Duchamps in einem deutschen Museum fand 1965 in Haus Lange in Krefeld statt. Wie auch immer Baselitz an Duchamp interessiert war, geht es nun nicht um sachliche Referenzen. Baselitz beamt Duchamp als „Lüstling“ (Werktext) in den Wald von Blainville und unterstellt ihm eine uchronische Parallelzeit, die hätte sein können, aber sowenig der Fall war wie Napoleon Waterloo gewonnen hat.(6) Duchamp ist in Blainville geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend, bevor die Familie nach Rouen übersiedelte. Baselitz hat sich hier ein humorvolles Statement zum ewig prognostizierten Ende der Malerei erlaubt und Duchamp zum Stellvertreter erkoren. Ob er dabei bedacht hat, dass es Duchamp ist, der an Ironie und spielerischer Skepsis kaum zu überbieten ist?
Die Ausstellung bietet dort die stärksten Momente, wo Altes und Neues unvermittelt aufeinandertrifft. Die Malerei lebt, heißt es in einem der Werktexte abschließend, was man nur bejahen kann. Sie lebt auch, ohne dass Duchamp nun verdammt ist, als Figur im verhassten Medium der Malerei weiterzuleben, wie ebenso in einem der Werktexte zu lesen ist. Dazu könnte man allenfalls mit Duchamp antworten: „Bête comme un peintre…“
1. Vgl. Nicole Scheyrer, „Der mit dem Phallus malt“, Falter 10/23, S. 35.
2. Jasper Johns im Nachwort der Neuausgabe von Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 2019, S. 211.
3. Herbert Molderings, Die nackte Wahrheit. Zum Spätwerk von Marcel Duchamp, München 2012, S. 41.
4. Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972, S. 146.
5. Barbara Engelbach, Sophie Haaser und Susanne Neuburger im Gespräch mit Daniel Spoerri, 9.2.2017, Tondokument, Archiv mumok.
6. Zur Uchronie von Waterloo und anderen siehe Emmanuel Carrère, Kleopatras Nase. Kleine Geschichte der Uchronie, Berlin 1993.